Der Bundesrat hat am 11. April 2013 anlässlich des Gedenkanlasses für die Opfer von Zwangsmassnahmen auf den 13. Juni 2013 unter Leitung von Alt-Ständerat Hansruedi Stadler einen „Runden Tisch“ einberufen. Der „Runde Tisch“ soll sich vorbehaltlos, ohne Tabus um sämtliche offenen Fragen kümmern und die Geschichte der Verdingkinder und anderer Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen aufarbeiten. Vertreten sind Betroffene, Behörden- und Kirchenvertreter, der Bauernverband und weitere Organisationen.
Im Zusammenhang mit dem „Runden Tisch“ und mit der Entschuldigung an die Betroffenen des Bundesrates und der Entschuldigung der Kantone, der sich auch die Regierung des Kantons Graubünden angeschlossen hat, stellen sich einige Fragen.
Bisher haben sich die Kantone Luzern, Bern, Fribourg und Zürich zusätzlich expressis verbis entschuldigt. Besonders überzeugend waren die Entschuldigungen vom Kanton Luzern und Bern, weil sie mit konkreten Aufträgen an Historiker zur Aufarbeitung des Geschehenen verbunden waren. Einzelne Kantone wie Waadt und Gemeinden wie Zürich haben zudem einigen Betroffenen Beiträge im Hinblick auf ihre Schädigung durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen ausbezahlt.
Betreffend Jenische hat Graubünden inzwischen viel getan, vor allem auf dem Gebiet der Einrichtung von Standplätzen, aber auch mit einer Ausstellung im Rätischen Museum. Es gibt jedoch auch in Graubünden nicht nur jenische Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, auch wenn der grösste Teil der Kinder, 43 Prozent, die den jenischen Familien weggenommen wurden, aus dem Kanton Graubünden stammten: Ehemalige Verding-Heimkinder, in Realta administrativ Internierte, Zwangssterilisierte und Zwangskastrierte.
Eine Entschuldigung, Aufarbeitung und Entschädigungen sind Schweiz weit angebracht, auch wenn damit verursachtes Leid nicht ungeschehen gemacht werden kann. Neben den Gemeinden stehen vor allem auch die Kantone in der Pflicht.
Die Unterzeichnenden möchten der Regierung folgende Fragen stellen:
1. Wie gedenkt die Regierung, der Kanton Graubünden, gegenüber den Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sein Bedauern darzutun oder sich zu entschuldigen?
2. Ist der Kanton Graubünden, wie auch andere Kantone bereit, diese Geschichte in den Archiven sowie durch Befragung von Zeitzeugen (oral history) durch unabhängige Wissenschaftler aufarbeiten zu lassen?
3. Welche Gedanken macht sich der Kanton zu einem Modus oder Schlüssel betreffend Entschädigung der Geschädigten? Höhe der Entschädigungen, Aufteilung der Kosten auf Kanton, Gemeinden, Kirche und evtl. weitere Verantwortliche (Ärzte, Pro Juventute, Cadonau-Fonds …)?
4. Ist der Kanton am „Runden Tisch“ vertreten? Falls ja, mit wem?
5. Sind auch Betroffene aus dem Kanton Graubünden dort anwesend?
6. Wie viele Betroffene haben sich seit der Regierungsmitteilung vom 11. April 2013 bei der von der Regierung bezeichneten Anlaufstelle gemeldet (Opferhilfe-Beratungsstelle des Kantonalen Sozialamtes Graubünden)?
Chur, 11. Juni 2013
Trepp, Meyer-Grass, Augustin, Albertin, Baselgia-Brunner, Bucher-Brini, Burkhardt, Cavegn, Felix, Fontana, Frigg-Walt, Gartmann-Albin, Holzinger-Loretz, Jaag, Jeker, Jenny, Koch (Tamins), Locher Benguerel, Mani-Heldstab, Müller (Davos Platz), Niederer, Niggli-Mathis (Grüsch), Noi-Togni, Peyer, Pfenninger, Pult, Rosa, Thöny, Troncana-Sauer, Zanetti, Bürgi-Büchel, Deplazes, Hensel, Monigatti
Antwort der Regierung
Anlässlich des Gedenkanlasses vom 11. April 2013 in Bern hat sich Frau Bundesrätin Simonetta Sommaruga im Namen der Landesregierung bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen entschuldigt. Sie betonte, dieser Anlass sei nicht der Abschluss, sondern der Anfang einer umfassenden Auseinandersetzung mit diesem problematischen Teil der Schweizer Sozialgeschichte. Der Bundesrat ernannte einen Delegierten für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und setzte einen Runden Tisch für eine sorgfältige Aufarbeitung der Thematik ein.
Zu den Fragen 1, 2 und 3:
Die vom Bundesrat initiierte Aufarbeitung schliesst die Prüfung finanzieller und rechtlicher Fragen mit ein. Das Bundesamt für Justiz hat in einem Bericht eine Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder vorgenommen und weitere Themen für die rechtliche Aufarbeitung definiert (Bestandesaufnahme der bestehenden Forschungsprojekte in Sachen Verding- und Heimkinder, Basel, 2. April 2013). Von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sind unterschiedliche Personengruppen betroffen. Die Fremdplatzierungen erfolgten aus verschiedenen gesetzlichen (zivilrechtlich, strafrechtlich, armenrechtlich) oder aus medizinisch-psychiatrischen Gründen. Entsprechend unterschiedlich waren auch die Formen der Fremdplatzierung. Diese konnte in Pflegefamilien, Heimen, Kliniken oder Strafanstalten erfolgen. Die Regierung hat am 9. April 2013 von der Aufarbeitung der Thematik durch den Bund Kenntnis genommen. Sie hat das kantonale Sozialamt (Opferhilfe-Beratungsstelle) als offizielle Anlaufstelle für Fragen im Zusammenhang mit ehemaligen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen bezeichnet. Das Staatsarchiv wurde beauftragt, Direktbetroffene bei der Suche nach sie betreffenden Akten und der Einsichtnahme in diese zu unterstützen. Das Departement für Volkswirtschaft und Soziales hat anfangs August Behörden, Gerichte, Verwaltungsstellen sowie öffentliche und private Institutionen, die über Akten verfügen könnten, auf die Problematik aufmerksam gemacht und in Merkblättern die im Zusammenhang mit der Aktensicherung bei ehemaligen fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen relevanten Bestimmungen zusammengefasst sowie zusätzliche Empfehlungen zur Umsetzung abgegeben.
Die Massnahmen, die der Bund ergriffen hat, lassen eine umfassende Aufarbeitung der Thematik erwarten, zumal diese unter Teilnahme Direktbetroffener am Runden Tisch erfolgt. Ein Abschluss der Arbeiten ist bis spätestens Mitte 2015 geplant. Geklärt werden finanzielle und rechtliche Fragen, wie auch Wege zur historischen Aufarbeitung. Die Frage nach der historischen Verantwortung privater und staatlicher Akteure kann erst nach sorgfältiger, historischer Analyse beantwortet werden. Die Regierung will diese Ergebnisse abwarten und danach entscheiden, welche weiteren, Graubünden spezifischen Massnahmen erforderlich sind. Sie erinnert zudem daran, dass sich Bund und Kantone, so auch Graubünden, bereits entschuldigt haben.
Zu Frage 4
Die Kantone, darunter auch Graubünden, sind am Runden Tische durch die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) vertreten.
Zu Frage 5
Am Runden Tisch sind, soweit bekannt, keine Betroffenen aus dem Kanton Graubünden vertreten.
Zu Frage 6
Bis 31. Juli 2013 haben sich bei der Opferhilfe-Beratungsstelle fünf direktbetroffene Personen gemeldet. Beim Staatsarchiv haben zusätzlich zu drei von der Opferhilfestelle überwiesenen Personen noch drei weitere nach Informationen nachgesucht. In diversen Fällen wurden die Zwangsmassnahmen nicht oder nicht ausschliesslich im Kanton Graubünden verfügt. Die Biographien der Betroffenen führen häufig in verschiedene Kantone.
23. August 2013