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Session: 23.04.2008
Die Repräsentation der Bevölkerung ist der wichtigste Massstab zur Verteilung von Sitzen in einem Parlament. Das Parlament soll gemäss der Lehre das Volk abbilden und nicht ein Abbild der Mehrheitsmeinung sein. Dabei gelten weniger territoriale Prinzipien, sondern die unterschiedlichen Interessen und Anschauungen. Dazu sind in Theorie und Praxis allgemein sieben Kriterien anerkannt: Region, Parteien, Konfession, Sprache, Beruf, Alter und Geschlecht. Der Bezug zu diesen Kriterien gewährleistet die Repräsentanz eines Parlamentes als Abbild der wählenden Bevölkerung und kann somit als Messgrösse der praktischen Umsetzung definiert werden. Die Bündner Regierung hat sich ebenfalls in der Botschaft zur Initiative „80 sind genug“ dazu bekannt. In diesem Zusammenhang hat sich die Lehre verschiedentlich kritisch zur Repräsentanz des bündnerischen Grossen Rates geäussert. So schrieb etwa der renommierte Staatsrechtsprofessor Alfred Kölz: „In einer auf dem Grundsatz der gleichen Würde jedes Menschen berührenden Demokratie muss zumindest für die Parlamentsarbeit die Erfolgswertgleichheit aller Stimmen ein ständig anzustrebendes Ziel von Politik, Gesetzgebung und Rechtsprechung sein; denn Parlamente erlassen Gesetze, die alle binden.“

Im Weiteren werden die freie Willensbildung und die unverfälschte Stimmabgabe durch die Verfassung geschützt. Diese werden bundesgerichtlich mit dem Gebot der Rechtsgleichheit verknüpft. Somit gilt das Gleichheitsgebot als ein Bestandteil der Stimm- und Wahlfreiheit und die Bedeutung für die politischen Rechte wird dadurch direkt ersichtlich.

Zusammengefasst ergeben sich drei zentrale Postulate der Wahlrechtsgleichheit: Die Zählwertgleichheit sichert die gleiche Berücksichtigung aller abgegebenen Stimmen, die Stimmkraftgleichheit sichert die Verwertung der Stimmen und die Erfolgswertgleichheit garantiert, dass alle Stimmen in gleicher Weise zum Wahlergebnis beitragen.

Die unterzeichneten Mitglieder der SP-Fraktion fragen deshalb die Regierung an:

1. Wie sieht sie die Repräsentanz der Bevölkerung im Grossen Rat abgebildet, aufgeschlüsselt auf die sieben genannten Kriterien und als Gesamtheit?

2. Ist im heutigen Wahlsystem die Wahlrechtsgleichheit garantiert, insbesondere wie bewertet die Regierung die Erfolgswertgleichheit und mit welcher Methode wird sie berechnet?

3. Wie hoch bewertet die Regierung die gewichtslosen Stimmen und wie können sie allenfalls minimiert werden?

4. Wie interpretiert die Regierung die Zweifel der herrschenden Lehre, welche die Repräsentanz der Bevölkerung im Grossen Rat kritisch bewerten?

5. Ist die Regierung gewillt, die Repräsentanz des Grossen Rates und die Wahlrechtsgleichheit der Bündner Bevölkerung wissenschaftlich untersuchen zu lassen?

Chur, 23. April 2008

Name: Bucher-Brini, Peyer, Locher Benguerel, Baselgia-Brunner, Gartmann-Albin, Jaag, Jäger, Menge, Pfenninger, Thöny, Trepp, Michel (Chur)

Session: 23.04.2008
Vorstoss: dt Anfrage

Antwort der Regierung

Mit dem vorliegenden Vorstoss soll offensichtlich die Diskussion über die Frage nach dem richtigen Wahlsystem für die Wahl der Mitglieder des Grossen Rates wieder in Gang gesetzt werden. Seit den Achtzigerjahren hat sich der Bündner Souverän dreimal direkt (1982, 1996 und 2003) und einmal indirekt, im Zusammenhang mit der Abstimmung vom 24. Februar 2008 über die Volksinitiative "Grosser Rat: 80 sind genug", zur Wahlsystemfrage äussern können. In allen diesen Abstimmungen hat das Bündner Stimmvolk eine Änderung des heutigen Wahlsystems (Majorzverfahren in 39 Wahlkreisen mit Sitzgarantie) abgelehnt. Aus rechtlichen Gründen sieht die Regierung in dieser Frage keinen Handlungsbedarf. Wie das Bundesgericht nämlich mehrfach und in konstanter Rechtsprechung dargelegt hat (vgl. zuletzt BGE 131 I 85 ff.), genügen sowohl das Majorz- als auch das Proporzwahlverfahren den bundesverfassungsrechtlichen Anforderungen. Zudem erteilten die eidgenössischen Räte mit Beschlüssen vom 7. Juni 2004 (Ständerat) und vom 15. Juni 2004 (Nationalrat) der totalrevidierten Kantonsverfassung die eidgenössische Gewährleistung, nachdem die Frage der Verfassungsmässigkeit des Bündner Majorzwahlsystems dabei ausdrücklich thematisiert worden war (vgl. Amtliches Bulletin Nationalrat 2004, S. 260 ff.). An dieser Beurteilung ändert deshalb nichts, dass einzelne Lehrmeinungen eine kritische Haltung einnehmen und die Verfassungsmässigkeit anzweifeln. Das dabei vorgebrachte Argument, das Majorzwahlverfahren verletze die Erfolgswertgleichheit, vermag im Übrigen nicht zu überzeugen. Die Forderung nach Erfolgswertgleichheit hat nur im Rahmen des Proporzwahlverfahrens Platz; bei Mehrheitswahlen ist eine "Gleichheit im Erfolg" systembedingt ausgeschlossen (vgl. Thomas Poletna, Wahlrechtsgrundsätze und kantonale Parlamentswahlen, Zürich 1988, S. 29 f.). Dieser Einwand seitens der besagten Lehrmeinungen geht deshalb an der Sache vorbei.
Die erwähnten Volksentscheide sind allerdings teilweise knapp ausgefallen. Für die Regierung zeigt sich damit politisch mittelfristig doch ein gewisser Handlungsbedarf in der Wahlsystemfrage. Sie möchte deshalb die Voraussetzungen und Möglichkeiten eines den speziellen Bündner Verhältnissen gerecht werdenden Wahlsystems prüfen. Diese Abklärungen sollen allerdings erst nach Abschluss der laufenden Strukturreformen erfolgen, wenn bezüglich der Gebietseinteilungen des Kantons (Regionen, Bezirke, Kreise) konsolidierte Verhältnisse sich abzeichnen. Das Anliegen kann allenfalls in das nächste Regierungsprogramm aufgenommen werden.

Unter den gegebenen Umständen sieht die Regierung zurzeit weder rechtlich noch politisch einen Anlass, auf die aufgeworfenen Fragen einzugehen oder gar eine wissenschaftliche Studie in Auftrag zu geben. Der Vollständigkeit halber ist auch noch auf die praktischen Schwierigkeiten hinzuweisen, welche sich bei der Beantwortung gewisser Fragen ergeben würden. Nachdem in verschiedenen Kreisen noch an der Landsgemeinde gewählt und zumindest bei unbestrittenen Wahlen auch mit dem offenen Handmehr abgestimmt wird, sind nicht überall die notwendigen Stimmenangaben verfügbar, um bestimmte Fragen beantworten zu können.

Datum: 19. Juni 2008