(Abstimmungsvorlagen 1 und 2)
Totalrevision der Bündner Kantonsverfassung
Gründe für die Totalrevision der Kantonsverfassung aus der Sicht des Grossen Rates
und der Regierung
Der Grosse Rat und die Regierung sind der Auffassung, dass eine Totalrevision der
Kantonsverfassung nötig ist. Die Verfassung ist grundlegend zu überprüfen, um die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts annehmen zu können. Das Ziel der Totalrevision ist es,
ein modernes, bürgernahes und zukunftsgerichtetes Grundgesetz zu schaffen, das Bewährtes stärkt
und nötige Neuerungen einführt.
Die geltende Kantonsverfassung ist mangelhaft
Unsere geltende Kantonsverfassung stammt aus dem Jahr 1892. In diesem langen Zeitraum hat
sich ein enormer gesellschaftlicher Wandel vollzogen, der in der Kantonsverfassung nur
beschränkt Niederschlag gefunden hat. Verschiedene Bestimmungen sind heute gegenstandslos
geworden oder überholt. Die Verfassungswirklichkeit unterscheidet sich in verschiedenen Punkten
deutlich vom Verfassungstext. Zahlreiche Verfassungsbestimmungen sind aufgrund ihres
Wortlautes oder ihres Inhaltes kaum mehr verständlich. Wichtige Bereiche sind in der Verfassung
gar nicht oder nur sehr lückenhaft erfasst. Zahlreiche Staatsaufgaben, die heute ein grosses
Gewicht haben, finden in der Kantonsverfassung keinen Niederschlag.
Die Bündner Kantonsverfassung kann somit ihr hohes Alter nicht verbergen. Sie hat inhaltliche
und formelle Mängel, die es zu beheben gilt. Die Notwendigkeit einer Totalrevision ist im Grossen
Rat und in der Regierung unbestritten und durch ein unabhängiges Rechtsgutachten belegt.
Eine neue Kantonsverfassung, die den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen
Anforderungen genügt, bildet die beste Grundlage für das Lösen von jetzigen und zukünftigen
Problemen. Sie trägt zu einer Stärkung des Standortes Graubünden bei und zeigt, dass er "in guter
Verfassung" ist.
Einige Mängel unserer Kantonsverfassung könnten auch durch Teilrevisionen behoben werden.
Aber auf diese Art sind wir nicht in der Lage, alle Probleme zu lösen. Die Verfassung bliebe ein
unvollständiges Flickwerk. Einzig eine Totalrevision erlaubt die Schaffung einer in sich
geschlossenen Verfassung. Nur mit einer Totalrevision besteht die Möglichkeit, die
Staatsgrundlagen gesamtheitlich zu überprüfen und zu beurteilen. So bietet sich die Gelegenheit,
staatspolitische Grundsatzfragen zur Diskussion zu stellen.
Mögliche Reformbereiche
Im Rahmen einer Totalrevision werden sämtliche Bereiche der Verfassungsgebung einer
grundlegenden Überprüfung unterzogen und im Sinne einer umfassenden Diskussion "in Frage”
gestellt. Dies darf jedoch nicht mit einem revolutionären Umsturz der bisherigen Ordnung
gleichgesetzt werden. Vielmehr geht es darum, die Handlungsfähigkeit aller staatlichen Ebenen für
die Zukunft sicherzustellen und die Grundlagen zu schaffen, um die kommenden Probleme zu
lösen. Folglich darf sich die Revision nicht nur mit formellen und sprachlichen Anpassungen
begnügen.
Inhaltliche Änderungen drängen sich in verschiedenen Bereichen auf. Ohne Lösungen vorzugeben,
gilt es zum Beispiel, die folgenden Fragen im Rahmen der Revisionsarbeiten zu diskutieren:
Bei der Staatsorganisation steht die Verteilung der Zuständigkeiten auf die verschiedenen
staatlichen Ebenen (Kanton, Regionen, Gemeinden) im Vordergrund. Es geht auch um die
Zusammenarbeit in den Regionen sowie über die Kantonsgrenze hinaus (mit den angrenzenden
Kantonen/Gemeinden und dem Ausland).
Die Verwaltungsgliederung des Kantons muss es in Zukunft jeder Stufe ermöglichen, ihre
Zuständigkeiten effizient und wirtschaftlich zu erfüllen. In diesem Zusammenhang sind als
Stichworte die Gemeindeverbände und die Agglomerationen zu sehen.
Handlungsbedarf besteht weiter bei den Volksrechten. Bedeutende Fragen sind in der
Verfassung nicht oder zu wenig geregelt. Die Zuständigkeitsordnung zwischen Volk, Parlament
und Regierung ist zu überprüfen, um ein demokratisches und gleichzeitig sach- und zeitgerechtes
Verfahren zu erreichen. Dabei muss sich das Volk zu allen wichtigen Fragen äussern können. Es
geht um Fragen wie die Mitbestimmung des Volkes in Verwaltungsfragen
(Verwaltungsreferendum), die Möglichkeit des Referendums gegen einzelne
Gesetzesbestimmungen (konstruktives Referendum), das fakultative Gesetzesreferendum oder
das Wahlsystem.
Die Grundsätze der Finanzordnung sollen in der Verfassung zusammengefasst werden. Dies
betrifft die Beschaffung, die Verwaltung und die Verwendung von öffentlichen Geldern.
Unbestritten ist der Revisionsbedarf der bündnerischen Gerichtsorganisation. Die Arbeiten daran
wurden bereits unabhängig von der Totalrevision der Kantonsverfassung an die Hand genommen.
Graubünden ist nicht allein
Verschiedene Kantone haben in den letzten Jahren ihre Verfassungen bereits total revidiert, so
etwa die Kantone Aargau (1980), Uri, Basel Land (beide 1984), Solothurn (1986), Thurgau,
Glarus (beide 1988), Bern (1993) und Appenzell Ausserrhoden (1995). Andere Kantone haben
das Verfahren zur Totalrevision eingeleitet oder bereiten dieses vor. Hierzu gehören St. Gallen,
Schaffhausen, Tessin, Neuenburg, Waadt oder Zürich. Der Kanton Graubünden kann bei seinem
Revisionsvorhaben demnach auf die Vorarbeiten in anderen Kantonen zurückgreifen und deren
Erfahrungen nutzen.
Aufgaben einer Kantonsverfassung
Eine Verfassung drückt in grundsätzlichen Bestimmungen aus, wie Bürgerinnen und Bürger ihren
Staat in Bezug auf die öffentlichen Aufgaben, die Behördenorganisation sowie ihre Rechte und
Pflichten ausgestalten wollen. Sie bildet die Grundlage der kantonalen Rechtsordnung und der
staatlichen Organisation. Auf ihr bauen alle Erlasse und Beschlüsse von Volk und Behörden des
Kantons und der Gemeinden auf.
Eine wesentliche Funktion der Kantonsverfassung ist ihre Orientierungsfunktion. Sie soll den
Kanton verständlich und das Handeln seiner Organe voraussehbar machen. Bürgernahe
Formulierungen dienen der Transparenz und erhöhen die Rechtssicherheit. Sie sind
Ausgangspunkt der Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem Kanton.
Jahr: 1998