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Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Seit über 150 Jahren wird das Bettagsmandat der Regierung in den Kirchen unseres Kantons verlesen. Das Bettagsmandat soll die Verbindung zwischen Kirche und Staat ausdrücken und auf die Bedeutung der christlichen Grundwerte für das staatliche Handeln hinweisen. In diesem Jahr bietet sich für die Regierung Gelegenheit, einige grundsätzliche Überlegungen zum heutigen Verhältnis zwischen Kirche und Staat, zwischen Religion und Gesellschaft anzustellen.
Die heutige Gesellschaft ist von zunehmender Orientierungslosigkeit geprägt. Bisherige feste Werte des gesellschaftlichen Zusammenlebens verfallen, ohne das gleichwertige an ihre Stelle treten. Solidarisches Denken und Handeln wird mehr und mehr von einem ausgeprägten Individualismus verdrängt, der Ausfluss einer Überhöhung des Grundwertes der persönlichen Freiheit ist. Für die Gesellschaft und den Staat entscheidende, hochrelevante Angelegenheiten werden ins rein Private abgedrängt. Wertentscheidungen, Wertsetzungen, Lebensorientierung, Überzeugungen sollen ausschliesslich Privatangelegenheiten und der öffentlichen Diskussion entzogen sein. Auf Dauer kann die Gesellschaft aber nicht ohne einen verbindlichen Wertekonsens existieren. Die grosse, zugleich jedoch äusserst anspruchsvolle Aufgabe der Kirche in unserer Zeit ist es deshalb, der Gesellschaft und ihren Mitgliedern auf der Basis der christlichen Lehre ethische Grundwerte und moralische Wertmassstäbe zu vermitteln und auf diese Weise unser Zusammenleben positiv zu beeinflussen. Dies geht in erster Linie über das lebendige Beispiel. Das soziale Engagement der Kirche stellt denn eine ständige, auch öffentliche und politische Aufforderung dar: nämlich die Schwachen, die Kranken, die Benachteiligten nicht fallen zu lassen. Zur ethischen Orientierung und zur Gewissensbildung der Gesellschaft und des Einzelnen tragen weiter klare und eindeutige Positionen der Kirche in wichtigen Lebensfragen bei. Sie stellen ein notwendiges Element der Meinungsbildung dar. Der Staat wird der Stimme der Kirche zwar nicht immer und überall folgen können; er tut aber gut daran, ihr aufmerksam zuzuhören und sie bei seinen Entscheiden sorgfältig zu würdigen. Nur wenn Kirche und Staat aufbauend zusammenwirken, lassen sich die komplexen Probleme bewältigen, mit denen sich unsere Gesellschaft heute konfrontiert sieht.
Der Dank-, Buss- und Bettag sollte deshalb für uns alle besonderer Anlass sein, über die Konsequenzen bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen nachzudenken und uns auf die Grundwerte des christlichen Glaubens zurückzubesinnen, die da sind: Nächstenliebe, Toleranz, Sorge für den Nächsten und Gerechtigkeit. Diese Werte bilden eine der Grundvoraussetzungen für eine echte staatliche Gemeinschaft. Überlegen wir, was jeder von uns an seinem Platz, in der Familie, im Beruf, in öffentlichen Funktionen und Ämtern, konkret dazu beitragen kann, dass diese Werte in unserer Gesellschaft wieder spürbar zum Tragen kommen. Versuchen wir, auch dort, wo es uns schwerer fällt, tagtäglich nach diesen Grundsätzen zu handeln. Dazu rufen wir Sie auf!
Mit diesen Gedanken empfehlen wir euch, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, und alle unsere Mitmenschen samt uns der Obhut des Allmächtigen.
Chur, im September 1998 Namens der Regierung:
Der Präsident: Luzi Bärtsch
Der Kanzleidirektor: Dr. Claudio Riesen
Gremium: Regierung
Quelle: dt Standeskanzlei Graubünden
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