Graubünden startet ein bisher in der Schweiz einmaliges Projekt: Das kantonale Recht soll auf allen Stufen gründlich entrümpelt werden. Eine entsprechende Analyse hat ergeben, dass bei fast drei Vierteln der Erlasse Handlungsbedarf besteht.
Die Regierung nimmt Kenntnis vom Bericht über die erste Phase des Projekts "Verwesentlichung und Flexibilisierung der Rechtsetzung und Rechtsanwendung" (VFRR). Das Papier umfasst eine eindrückliche Auslegeordnung von Erlassen, die geändert oder aufgehoben werden könnten. Die Projektgruppe wird ermächtigt, das Projekt im Sinn einer Konzentrationsvariante weiterzuführen.
Entrümpelung soll Luft schaffen
Das Projekt VFRR bezweckt, die Qualität der staatlichen Regelungen und Tätigkeiten zu verbessern. Allzu viele, teils unnötige Regelungen können ein flexibles und bedürfnisgerechtes Verwaltungshandeln behindern und die Freiräume für Private erheblich einengen. Aus diesem Grund soll die Regelungsdichte des kantonalen Rechts abgebaut werden. Konkret verfolgt das Projekt "Verwesentlichung und Flexibilisierung der Rechtsetzung und Rechtsanwendung" die folgenden Hauptziele:
- Mehr Freiräume für Private schaffen.
- Das Organisations- und Verfahrensrecht auf das unbedingt Notwendige beschränken.
- Handlungs-Spielräume für die Verwaltung erweitern, damit sie wirksamer und effizienter arbeiten kann.
- Eine Gesetzgebung schaffen, die sich rasch an sich ändernde Verhältnisse anpassen kann.
- Die Gemeindeautonomie stärken und dezentrale Lösungen ermöglichen.
- Verfahrensinstrumente einführen, um die Qualität der Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu kontrollieren und sicherzustellen.
Analyse ergibt eindeutigen Handlungsbedarf
Während rund einem Jahr ist der Bündner Paragraphenwald gründlich durchforstet worden. Über 100 kantonale Angestellte haben ihren jeweiligen Bereich kritisch unter die Lupe genommen. Dabei galt es festzustellen, welche kantonalen Erlasse aufgehoben oder geändert werden können. Anhand einer detaillierten Checkliste wurden alle geltenden Gesetze, Grossrats-Verordnungen und Regierungsverordnungen entsprechend geprüft.
Das Projekt VFRR wird geleitet von einer Projektgruppe unter der Federführung der Standeskanzlei. Sie setzt sich zusammen aus Vertretern jedes Departements und wird wissenschaftlich begleitet von Professor Georg Müller (Dozent für Staats- und Verwaltungsrecht und Gesetzgebungs-Lehre an der Uni Zürich).
Die VFRR-Projektgruppe hat kürzlich ihren Bericht vorgelegt. Dieser umfasst eine eindrückliche Auslegeordnung, welche die Analysephase abschliesst. Die Auslegeordnung ist bewusst durch Personen aus der Verwaltung erarbeitet worden, weil diese über den nötigen Praxisbezug verfügen und die Massnahmen in der Folge auch umsetzen müssen.
Das Resultat der Analyse ist eindeutig: Bei 460 oder fast drei Vierteln aller kantonalen Erlasse besteht Handlungsbedarf. Um Prioritäten zu setzen und die Kapazitäten der Verwaltung nicht zu sprengen, hat die Regierung beschlossen, dass sich das Projekt VFRR auf 273 Erlasse konzentrieren soll.
Phase zwei wird eingeläutet
Die Entrümpelungsaktion des Projekts VFRR durchläuft im wesentlichen die folgenden Phasen und Projektschritte:
1. Analyse des Handlungsbedarfs (mit Vorlage der Auslegeordnung soeben abgeschlossen).
2. Entrümpelung auf der Stufe Regierungsverordnungen (bis Ende 1998 werden 65 Regierungsverordnungen aufgehoben und deren 106 geändert. Die Kompetenz liegt bei der Regierung).
3. Entrümpelung auf der Stufe Gesetze und Grossrats-Verordnungen (in der Zeit von Anfang 1999 bis Mitte 2000 sollen 4 Gesetze aufgehoben und deren 17 geändert, 15 Grossrats- Verordnungen aufgehoben und deren 15 geändert sowie 4 Regierungsverordnungen aufgehoben und deren 31 geändert werden. Die Kompetenz liegt je nach Bereich beim Volk, beim Grossen Rat oder bei der Regierung).
4. In der Folge sollen weitere 188 Erlasse im ordentlichen Verfahren, also ausserhalb des Projekts VFRR, bearbeitet werden.
Es ist vorgesehen, den Hauptteil des Projekts VFRR Mitte 2000 abzuschliessen.
Konkrete Beispiele
Was für Auswirkungen kann das VFRR-Projekt konkret zeitigen? Die nachfolgenden Beispiele sind alles andere als abschliessend, sollen aber die Stossrichtung des Projekts skizzieren. Dabei ist klar vor Augen zu halten, dass das Umsetzen der möglichen Massnahmen erst dann möglich wird, wenn diese das ordentliche Rechtsetzungsverfahren durchlaufen haben (z.B. bei Gesetzen Vernehmlassungsverfahren, Absegnung durch Grossen Rat und Volksabstimmung).
Als Massnahmen zur Vergrösserung der Freiräume Privater kommen in Frage:
- Aufhebung der obligatorischen Viehversicherung
- Verzicht auf bestimmte Patentpflichten im Skisport-Bereich
- Herabsetzung des Alters für das Fischereipatent
- Aufhebung des Kaminfegermonopols.
Unter dem Titel "Stärkung der Gemeindeautonomie" sind denkbar:
- Aufhebung kantonaler Vorgaben für verschiedene Bereiche im Gemeindegesetz
- Mehr Kompetenzen für die Gemeinden im Verfahren für die Bewilligung von Bauten ausserhalb der Bauzonen
- Kommunale Waldordnungen ausschliesslich in der Kompetenz der Gemeinden.
Um Verwaltungsabläufe in organisatorischer und verfahrensmässiger Hinsicht zu vereinfachen, könnten:
- zahlreiche Kompetenzen von der Regierung auf die Departemente oder von den Departementen auf Ämter übertragen werden (z.B. in den Bereichen Energie, Rodungen, Volksschule, öffentliche Sammlungen, Strassenverkehr, kantonales Personal), und
- beratende und andere Kommissionen aufgehoben werden.
Demokratische Legitimation
Das Projekt VFRR basiert auf dem Regierungsprogramm 1997-2000. Unter dem Titel "Effiziente und bürgernahe Kantonsverwaltung und Staatsorganisation" wird ausgeführt: "Verschiedene Bereiche der Staatstätigkeit in Graubünden leiden unter einer hohen Regelungsdichte, die flexibles und bedürfnisgerechtes Verwaltungshandeln erschwert. Projekte wie NPM erweisen sich nur dann als sinnvoll, wenn gleichzeitig die Regelungsdichte abgebaut wird. Den Willen dazu hat die Regierung bereits mit der Erstattung des Deregulierungsberichts bekundet. Das Abbaupotenzial lässt sich nur mit einer integralen Überprüfung des geltenden Rechts auf Aufhebungs-, Reduktions- und Konzentrationsmöglichkeiten ermitteln. Gleichzeitig mit der Verminderung der Regelungsdichte ist konkret zu klären, wie die verbleibenden Regeln im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten flexibel angewendet werden können". In der Mai-Session 1996 hat der Grosse Rat das Regierungsprogramm zur Kenntnis genommen. Das Projekt VFRR wurde eingehend diskutiert und die entsprechenden Massnahmen ausdrücklich unterstützt.
Schon jetzt positiver Effekt
Die Auseinandersetzung mit grundlegenden Fragen zur Bündner Rechtsordnung wirkt sich innerhalb der kantonalen Verwaltung bereits heute positiv aus. Zum einen werden die Projektgrundsätze auf laufende Gesetzgebungs-Verfahren angewendet. Verschiedene Erlasse konnten "verwesentlicht" und in schlanker Form verabschiedet werden. Dies erweist sich gerade auch im Hinblick auf die mögliche Einführung von New Public Management als wichtig. Zum anderen hat die Verwaltung gezeigt, dass sie bereit und in der Lage ist, notwendige Reformen selber an die Hand zu nehmen. Die positive Einstellung zur Veränderung muss zur Grundhaltung für die Zukunft werden.
Gremium: Regierung
Quelle: dt Standeskanzlei Graubünden