Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Im vergangenen Jahr hat ein Fussballverein der obersten Liga am
Eidgenössischen Buss- und Bettag ein Spiel von nationaler Bedeutung
durchgeführt. Das hat Irritationen ausgelöst. Die Diskussion gipfelte in
der Frage, ob es nicht zeitgemässer wäre, den Bettag abzuschaffen und
ihn zu einem Sonntag zu machen wie es alle anderen auch sind; zu einem
arbeitsfreien Tag nämlich, an dem jeder tun und lassen kann, was ihm
beliebt. Die Meinungen dazu waren kontrovers. Gegenseitig warf man sich
vor, die Zeichen der Zeit nicht zu erkennen und damit das Falsche zu
fordern.
Abschaffen, postulierten die einen. Es sei nicht Aufgabe der Kirche
und des Staates das Freizeitverhalten der Bevölkerung am dritten Sonntag
im September zu diktieren. Stille und Besinnlichkeit könnten nicht
verordnet werden. Mit Bezug auf die Anforderungen an den Menschen der
Moderne wünschten sie anstelle des Feiertages lieber einen freien Tag.
Eben gerade nicht, meinten die anderen und begründeten ihre Ansicht
ebenso vor dem Hintergrund heutiger Anforderungen. Die Allianz von
Aufklärung und Technik hätte zu einer Beschleunigung und Vielfalt an
Wahlmöglichkeiten geführt, der sich viele Menschen hilflos ausgeliefert
fühlten. Der Alltag werde damit immer ruheloser; überhaupt herrsche auf
allen Ebenen eine pausenlose Mobilmachung, der sich nichts und niemand
entziehen könne. Und nachgerade aus diesem Grund sei es Pflicht des
Staates und der Kirche, Stille und Besinnung wenn schon nicht zu
befehlen, dann doch mindestens zu ermöglichen und mit dem Bettagsmandat
auch ein Zeichen dafür zu setzen.
Feiertag oder Sonntag?
Die Geschichte genauso wie Beobachtungen aus dem täglichen Leben
weisen darauf hin, dass wir auf ein bestimmtes Mass an Ruhelosigkeit
ebenso angewiesen sind wie auf ein Minimum an Ruhe. Unser individuelles
wie gemeinschaftliches Wohlergehen hängt auch von Pausen ab. Sie sind
ein bedeutsamer Teil des Geschehens. Pausen gehören zum Wesen der Natur.
Sie sind ein Element sozialer und kultureller Organisation.
Es wird zunehmend schwieriger, sich aus dem Alltag auszuklinken und
Räume zu finden, in denen nicht die Regeln der Geschwindigkeit und der
Alltagseffizienz gelten. Der Sonntag ist zwar in der Regel arbeitsfrei,
aber in der Gestaltung gleicht er der Fortsetzung des Alltags mit
anderen Mitteln. Der Dank-, Buss- und Bettag hingegen ist das nicht. Er
ist eine Pause. Er ist ein klarer Unterbruch zum alltäglichen Einerlei,
er strukturiert das Jahr und trennt Alltag vom Feiertag. Was die eigenen
vier Wände für den Raum, ist der Bettag für die Zeit. Er schafft die
Ruhe und Geborgenheit, die nötig sind, um sich genau jenen Fragen
stellen zu können, die aus der Alltagshektik und ihrer Logik heraus
nicht zu beantworten sind.
Dabei geht es nicht um Antworten auf Fragen, denen mit Informationen
und Fachkompetenz beizukommen ist. Es geht um Antworten, die den ganzen
Menschen fordern und bei denen uns schon mulmig wird, wenn sie unser
Bewusstsein nur streifen: Angst vor Verlusten, Zweifel an der Zukunft
oder existentielle Krisen. Wollen wir darauf glaubwürdige Antworten
finden, ist Distanz zum Alltag unumgänglich. Erst ein "Austreten" aus
den Geboten des Mehr, Schneller und Höher lüftet den Horizont und
ermöglicht einen freien Blick auf die Bedeutung unseres alltäglichen
Tuns. Nicht zuletzt auch dazu soll der Dank-, Buss- und Bettag für uns
Gelegenheit sein.
Der Dank-, Buss- und Bettag ist eine Aufforderungen zum Gespräch und
zur Begegnung. Er ist ein Appell zum Dialog mit den Kirchen und
Konfessionen genauso wie er Angebot ist zum Gespräch mit all denen, die
die Vielfalt und Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft ausmachen. So
ist dieser Feiertag ein Beitrag zur Solidarität in unserer Gemeinschaft.
Die Abschaffung des Dank-, Buss- und Bettages zugunsten eines
Sonntages wie alle anderen wäre die falsche Antwort auf die
Anforderungen der Moderne.
Je pausenloser unser Alltag wird, desto wichtiger werden Pausen. Der
Dank-, Buss- und Bettag ist eine Pause vom Alltag. Wir laden Sie ein,
das Potential dieses Tages für die Gestaltung unserer Zukunft zu
erkennen und zu nutzen.
Mit diesen Gedanken empfehlen wir euch, liebe Mitbürgerinnen und
Mitbürger, und alle unsere Mitmenschen samt uns der Obhut des
Allmächtigen.
Chur, im September 2002
Namens der Regierung
Der Präsident: Claudio Lardi
Der Kanzleidirektor: Claudio Riesen
Gremium: Regierung
Quelle: dt Standeskanzlei Graubünden