An die Einwohnerinnen und Einwohner
des Kantons Graubünden
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Oft wird gesagt, dass der Zusammenhalt in der Schweiz sich in den
letzten Jahren gelockert habe. Dabei sei unser Land doch eine
Willensnation, zusammengehalten weder durch eine gemeinsame Sprache,
noch eine gemeinsame Landschaft oder eine gemeinsame Religion.
Was so für die Schweiz gesagt wird, gilt ausgeprägter noch für
Graubünden. Die Täler richten sich nach verschiedenen Richtungen aus,
die Sprachen sind verschieden, die Konfession ebenso, die
Wirtschaftsformen von grosser Unterschiedlichkeit. Das war schon in der
Vergangenheit so, es ist in den letzten Jahren nicht anders geworden.
Dazu sind Menschen aus ganz andern Kultur- und Sprachkreisen zu uns
gezogen, sie haben einen Teil ihrer Herkunft zu uns gebracht. Und dann:
Graubünden ist nicht nur auf die Schweiz ausgerichtet, es findet sich
mitten in Europa. Südtirol, Vorarlberg, Veltlin, das alles sind heute
Partner, mit allen haben wir Aufgaben und Pläne.
Nicht wenige denken, dass es in dieser Situation nur mit präzisen
Gesetzen und Vorschriften möglich ist, das Ganze zusammenzubehalten.
Aber gerade wegen dieser Verschiedenheit ist es wichtig, dass wir
einander nicht einengen, sondern uns gegenseitig den Raum geben, den wir
alle für die Entwicklung unserer Eigenheiten benötigen. Natürlich dürfen
die Alteingesessenen von den Neuhinzugekommenen erwarten, dass sie sich
assimilieren. Aber ebenso natürlich ist es, dass diese ein Stück ihrer
Herkunft behalten wollen. Das kann Ängste auslösen und uns dazu führen,
uns auf uns selbst zurückzuziehen. Dabei ist der Kontakt auch
Bereicherung und zwar auf beiden Seiten. Wenn wir diesem Wechselspiel
Zeit und Raum lassen und diesen Raum nicht durch übertriebene
Erwartungen und vorgefasste Ideen eng werden lassen, dann kann sich eine
gemeinsame Identität entwickeln. Wenn die Menschen, welche aus andern
Kantonen, Staaten und Kontinenten zu uns gekommen sind, erleben, dass
sie hier Wurzeln fassen dürfen, dann sind sie bereit mitzugestalten und
mitzuarbeiten.
Nicht anders als mit den Menschen, die in unserem Gebirgskanton
leben, ist es mit den Ideen. Neue tauchen auf, wollen sich Bahn brechen
und sich ausbreiten. Viele Menschen machen sich Sorgen, dadurch gehe
alles Alte, Wertvolle verloren. Und so gibt man dem Neuen gar keine
Chance, sich zu bewähren, gibt ihm den nötigen Raum nicht. Und umgekehrt
wollen sich die neuen Ideen nicht selten fast gewaltsam diesen Raum
schaffen indem sie das Alte als überholt und rückständig erklären.
Wie unser Kanton zum Beispiel seine inneren Strukturen gestalten
soll, Gemeinden, Bezirke, Regionen, ist ein immerwährendes Wechselspiel
von Entwickeln von neuen Ideen und Festhalten an bewährtem Bisherigen.
Wir brauchen beides. Das Neue abzuqualifizieren, wäre ebenso fatal wie
das Alte einfach wegzuwerfen. Wir haben die Aufgabe die politischen
Strukturen, aber auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Verhältnisse so zu gestalten, dass sie den Einzelnen und den
Gemeinschaften auch in Zukunft einen Raum ermöglichen, der ihnen nicht
schon präzis vorgegeben ist, sondern den sie in Freiheit gestalten
können. Wenn wir davon ausgingen, wir hätten mit dem, was heute
existiert, ein für alle Mal die beste Lösung gefunden, dann schränken
wir diesen Raum ein. Das macht mutlos, nimmt die Luft zum Atmen und die
Freude am Gestalten.
Als Einzelne, als Gemeinden und als religiöse wie kulturelle
Gemeinschaften sind alle aufgerufen, den eingeräumten Raum auch in
Besitz zu nehmen, ihn zu gestalten und nicht darauf zu warten, dass er
von einer übergeordneten Ebene fein säuberlich vorgegeben wird. Raum
fordern heisst ebenso sehr, Verantwortung zu übernehmen. Und Raum
gewähren heisst ebenso sehr, Vertrauen zu schenken. Beides kann nur
miteinander wachsen und gedeihen.
Seien wir uns bewusst: Wie wir das Leben in unserem Kanton
gestalten, beruht auf der sorgfältigen Arbeit derer, die uns
vorangegangen sind. Wir bauen auf auf ihren Leistungen, wir spüren auch
ihre Fehler. Nicht anders wird es den Generationen nach uns gehen. Wir
gestalten nicht für die Ewigkeit und wir machen Fehler. Und seien wir
uns eines weiteren Umstandes bewusst: Raum und Zeit haben wir nicht
selbst geschaffen. Sie sind uns gegeben, um damit haushälterisch
umzugehen. Nicht geizig, sondern freigiebig und verantwortungsvoll. Raum
schaffen und einander Raum lassen, Zeit geben und Zeit gestalten. Auf
diese Weise werden wir auch in Zukunft Lösungen finden, welche das
Zusammenleben ganz verschiedener Menschen, mit ganz verschiedenen Ideen,
Kulturen, Religionen und Hintergründen in diesem von der Schönheit der
Landschaft so verwöhnten Teil der Schweiz ermöglichen und zu einer
bereichernden Aufgabe machen.
Mit diesen Gedanken empfehlen wir Euch, liebe Mitbürgerinnen und
Mitbürger, und alle unsere Mitmenschen samt uns der Obhut des
Allmächtigen.
Chur, im September 2004
Namens der Regierung
Der Präsident: Klaus Huber
Der Kanzleidirektor: Claudio Riesen
Gremium: Regierung
Quelle: dt Standeskanzlei Graubünden