Die jüngsten massiven Gewalttaten gegen Frauen in der Schweiz, die hohen Opferzahlen im Bericht der Opferhilfe des Kantons Graubünden sowie die Äusserungen in diversen Diskussionsforen der sozialen Medien haben in der Öffentlichkeit erneut für Aufsehen gesorgt. Sie rufen in Erinnerung, dass Gewalt gegen Frauen weitaus verbreiteter ist, als allgemein angenommen.
Gewalt gegen Frauen betrifft die ganze Gesellschaft. Gewalt gegen Frauen geht uns alle an. Den Kollegen im Team, wenn seine Kollegin zuhause verprügelt wird. Die Grossmutter, deren Enkelin im Ausgang belästigt wird. Den Bruder, dessen Schwester an ihrem Arbeitsplatz sexuelle Übergriffe erleidet. Die Kinder, deren Eltern sich in gewalttätiger Weise auseinandersetzen.
Gewalt gegen Frauen verletzt nicht nur die betroffenen Frauen, sie belastet auch familiäre und private Beziehungen. Sie verhindert ein selbstbestimmtes Leben. Sie schüchtert Frauen ein, ob sie nun direkt betroffen sind, Zeuginnen werden oder sich aus Angst vor Gewalt nicht frei bewegen können.
Gewalt gegen Frauen bzw. häusliche Gewalt ist strafbar, diskriminierend und eine Verletzung der Menschenrechte. Es liegt deshalb im Interesse der gesamten Gesellschaft und des Staates, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, zu ahnden und ihr vorzubeugen. Mit dieser Einsicht hat die Schweiz die Instanbul-Konvention des Europarates angenommen und ratifiziert. Umgesetzt wird sie nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch in jedem Kanton. Sie trat am 1. April 2018 in Kraft.
In ihrer Antwort vom 23. August 2017 auf die Anfrage Locher Benguerel hält die Regierung in Wiederholung des Wortlauts aus der bundesrätlichen Botschaft unter anderem fest: Bund und Kantone erfüllten die Anforderungen der Istanbul-Konvention weitestgehend. Und weiter wolle sie abwarten und prüfen, welche zusätzliche Massnahmen der Bund den Kantonen empfehlen wird.
Im Jahr 2009 wurde das Bündner Interventionsprojekt gegen häusliche Gewalt beendet. Es dauerte fünf Jahre, bis die Regierung eine der Forderungen des Projektes umsetzte, indem sie eine Koordinationsstelle im Sozialamt einrichtete. Seither sind wiederum vier Jahre vergangen, und es ist nicht sichtbar geworden, wie die Koordinationsstelle wirkungsvolle Massnahmen umsetzt, die den Anforderungen der Istanbul-Konvention entsprechen. Obwohl ein neuer Leistungsvertrag mit dem Frauenhaus Graubünden in Kraft ist, arbeiten diese und andere Organisationen und Fachkräfte nach wie vor zu einem grossen Teil mit Spenden von privater Seite. Prävention und Sensibilisierung als wichtige Anforderungen der Istanbul-Konvention sind für die Öffentlichkeit kaum sichtbar.
Wir gelangen deshalb mit folgenden Fragen an die Regierung:
1. Wird die Regierung in der Umsetzung der Istanbul-Konvention eine aktive Rolle einnehmen und dazu beizutragen, dass Massnahmen mit den nötigen Mitteln ausgestattet und umgesetzt werden?
2. Plant die Regierung, dass die Koordinationsstelle im Sozialamt nicht nur koordiniert, sondern auch Mittel zur Verfügung hat, konzeptionell zu arbeiten und interdisziplinäre Projekte umzusetzen?
3. Wie gedenkt die Regierung die Bevölkerung in Bezug auf Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu informieren und zu sensibilisieren?
4. Werden jene Stellen, welche mit Opfern von häuslicher Gewalt oder mit gewaltbetroffenen Frauen zu tun haben (Stabsstelle für Chancengleichheit, Polizei, Justiz, Soziale Dienste usw.) zur Umsetzung der Istanbul-Konvention geschult? Wenn nein, wann ist dies geplant?
Chur, 1. September 2018
Müller (Felsberg), Widmer (Felsberg), Atanes, Baselgia-Brunner, Bigliel, Brandenburger, Cahenzli-Philipp, Cantieni, Caviezel (Chur), Clalüna, Degiacomi, Deplazes (Chur), Erhard, Gasser, Gugelmann, Hartmann-Conrad, Hefti, Hitz-Rusch, Hofmann, Holzinger-Loretz, Horrer, Locher Benguerel, Maissen, Märchy-Caduff, Müller (Susch), Niggli-Mathis (Grüsch), Noi-Togni, Perl, Preisig, Rettich, Ruckstuhl, Rutishauser, Schwärzel, Stiffler, Tanner, Thomann-Frank, Thöny, Ulber, von Ballmoos, Widmer-Spreiter (Chur), Wieland, Wilhelm, Zanetti (Sent)