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Session: 02.09.2023

Die Schweizerische Drogenpolitik fusst auf vier Säulen. Dazu zählen die Prävention, welche Problemen vorbeugen soll, die Therapie, mit welcher Leute Probleme bewältigen sollen, die Repression, mit welcher Fehlverhalten geahndet wird, sowie die Schadensminderung, mit welcher Leid verhindert werden soll. In den vergangenen Jahren hat die Drogenszene in Chur sich merklich negativ entwickelt und die Obdachlosigkeit zugenommen. Die Verhältnisse sind weder für die Betroffenen noch für die Bevölkerung haltbar.

Bei Housing First handelt es sich um einen Ansatz in der Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Im Unterschied zu den heute gängigen Unterstützungskonzepten wird bei Housing First vulnerablen, obdachlosen Personen bedingungslos Wohnraum zur Verfügung gestellt. Die Gewährung von Wohnraum ist also nicht an die Voraussetzung der Teilnahme an Betreuungs-, Therapie- oder Tagesstrukturangeboten gekoppelt. Die Gewährung von Wohnraum ist z. B. auch nicht an die Bedingung gekoppelt, drogenabstinent zu sein. Der Ansatz Housing First geht davon aus, dass ein sicheres Zuhause die Basis ist, dass Menschen in die Lage gelangen, andere Probleme anzugehen und sich damit die Lebenssituation insgesamt langfristig stabilisieren kann. In Finnland wurde beispielsweise Housing First seit 2008 breitflächig eingeführt. Dabei ist es Finnland – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – gelungen, die Zahl der Obdachlosen kontinuierlich zu senken. Vier von fünf Obdachlosen konnten ihre Wohnung für lange Zeit behalten und haben den Weg in ein stabiles Leben gefunden. Zudem hat sich Housing First auch für die Öffentlichkeit finanziell gelohnt: Es musste weniger Geld für Obdachlosigkeit (u. a. Polizei, Gesundheit und Justiz) und ihre Folgen ausgegeben werden. In der Schweiz wird Housing First in diversen Städten bereits umgesetzt (z. B. Basel-Stadt, Solothurn) und in anderen Städten wurden politische Vorstösse zum Thema überwiesen (z. B. Zürich und Bern).

Heute ist in Graubünden die Situation leider oftmals so, dass Personen, welche beispielsweise Beschaffungsdelikte verübt haben, im Gefängnis landen, wo automatisch ein Entzug stattfindet. Nach dem Gefängnisaufenthalt finden die Betroffenen (aufgrund des Eintrags im Leumund) nur schwer eine Wohnung. Dies wiederum erschwert den Einstieg in die Arbeitswelt und führt die betroffenen Menschen oftmals zurück in das belastete Umfeld. Dies wiederum führt die Leute in der Regel zurück in die Drogensucht. Es ist quasi ein Drehtüreffekt zu beobachten, welcher durch den Housing First Ansatz durchbrochen werden könnte.

In den Berichten von Infodrog sowie der Managementwerkstatt zur Suchtpolitik, welche vom Kanton Graubünden in Auftrag gegeben wurden, wurde auf das Housing First verwiesen. Von der Regierung wurde im letzten Jahr im Grossen Rat ebenfalls bereits bestätigt, dass man sich Gedanken in Richtung des Housing First Ansatzes macht.

Um die problematische Situation der Schwerstabhängigen im Kanton, welche im Parlament bereits mehrfach thematisiert wurde, ganzheitlich anzugehen, fordern die Unterzeichnenden deshalb von der Regierung den Ansatz des Housing First Konzepts im Kanton Graubünden zu prüfen und dem Grossen Rat eine Auslegeordnung für eine Umsetzung des Ansatzes zu unterbreiten.

Chur, 2. September 2023

Rettich, Danuser (Chur), Holzinger-Loretz, Atanes, Bachmann, Bardill, Baselgia, Bergamin, Biert, Bischof, Bisculm Jörg, Bleuler-Jenny, Cahenzli-Philipp, Degiacomi, Dietrich, Gartmann-Albin, Gredig, Hoch, Kaiser, Kreiliger, Luzio, Mazzetta, Müller, Nicolay, Perl, Preisig, Rageth, Rusch Nigg, Rutishauser, Said Bucher, Saratz Cazin, Thür-Suter, von Ballmoos, Walser, Wilhelm

Antwort der Regierung

Der Housing First Ansatz sieht im Grundsatz vor, dass wohnungs- und/oder obdachlosen Menschen Wohnraum bereitgestellt wird, ohne diesen an besondere Bedingungen zu knüpfen. Der Ansatz eignet sich besonders für Menschen mit einem gewissen Mass an Unterstützungsbedarf, in der Regel langzeitwohnungslose Personen mit einer Suchtmittelabhängigkeit und/oder psychischer Erkrankung. Personen, die Housing First nutzen, leben eigenständig und müssen sich an die gewöhnlichen Mietbedingungen halten, erhalten aber betreuerische Unterstützung angeboten. So wird der Zugang zu medizinischer und psychiatrischer Versorgung sowie zu Suchthilfeangeboten ermöglicht und die soziale Integration gefördert. Obwohl keine Abstinenz oder Behandlung gefordert wird, werden die Nutzer und Nutzerinnen von Housing First ermutigt, schädlichen Konsum zu minimieren und Hilfe anzunehmen. Der Housing First Ansatz gewährleistet kontinuierliche Hilfe, auch bei gewollten/ungewollten Umzügen oder Krisen. Der Ansatz trägt dazu bei, die Gesundheit und das Wohlbefinden der unterstützten Personen zu verbessern und damit ihre Chancen auf einen nachhaltigen Ausstieg aus der Wohnungs- und/oder Obdachlosigkeit zu erhöhen.

In Übereinstimmung mit den Erkenntnissen aus den vom Kanton in Auftrag gegebenen Berichten von Infodrog und der Managementwerkstatt hat die Regierung in ihrem Beschluss die Angebote der niederschwelligen Suchthilfe auszubauen festgehalten, dass auch beim Wohnangebot für suchtkranke Menschen angesetzt werden soll. Die Situation wird hinsichtlich dieses Aspekts zudem anhand der Informationen der regionalen Sozialdienste und der Aufsuchenden Sozialarbeit des Vereins Überlebenshilfe Graubünden («Streetwork») laufend analysiert. Unter Einbezug dieser Informationen ist deshalb aktuell bereits ein Pilotprojekt «Housing First/Wohnbegleitung» im Raum Chur in Erarbeitung. Die Entwicklung erfolgt mit einer Organisation, die bereits ein vergleichbares Angebot für Menschen mit psychischen Behinderungen (und Suchterkrankungen) im Kanton anbietet. Die Nutzer und Nutzerinnen leben in ihrer eigenen Wohnung und werden durch die Organisation zeitweise oder dauerhaft bei verschiedenen Aufgaben und Themen unterstützt, damit ein selbstständiges Wohnen möglich ist. Der Zugang zu diesen Dienstleitungen ist heute Personen vorbehalten, die eine IV-Rente erhalten. Im Rahmen des Pilotprojekts wird diese Zugangsbeschränkung aufgelöst. Der Umsetzungsstart des Pilotprojekts ist im ersten Halbjahr 2024 geplant.

Die grössten Herausforderungen in der Umsetzung des Housing First Konzepts werden die (schnelle) Verfügbarkeit, der Erhalt und die Sicherung von bezahlbarem Wohnraum sowie das Vorhandensein der erforderlichen Akzeptanz der Vermieterinnen und Vermieter sowie Nachbarschaft sein. Da zudem Auswirkungen auf die Sozialhilfekosten der Gemeinden zu erwarten sind, erweist sich die Akzeptanz in den Gemeinden als weitere Herausforderung. Durch das Pilotprojekt erwartet die Regierung eine rasche Unterstützung erster Teilnehmenden sowie bedeutsame Erkenntnisse hinsichtlich der Gelingensfaktoren bei der Umsetzung eines Housing First Ansatzes im Kanton Graubünden.

Aufgrund dieser Ausführungen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den vorliegenden Auftrag zu überweisen und als erledigt abzuschreiben.

26. Oktober 2023