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Ausstellungsposter «Mit der Bundesverfassung in die Moderne - auch in Graubünden» als PDF

Diese Webseite ist Bestandteil der Ausstellung «Graubünden und die Bundesverfassung» im Grossratsgebäude in Chur. Lehrreiche Visualisierungen erinnern daran, was die Einführung der Bundesverfassung für Graubünden bedeutete und wie sich der Bergkanton in den jungen Schweizer Bundesstaat integrierte. Die Ausstellung ist während der August-, Oktober- und Dezembersession 2023 des Grossen Rates jeweils von 8:30 bis 12:00 Uhr und von 14:30 bis 18:00 Uhr öffentlich zugänglich.

Die Bundesverfassung von 1848 legte den Grundstein zur heute noch bestehenden politischen Organisation der Schweiz: Gewaltenteilung, demokratische Teilhabe der Bürger, Freiheitsrechte, Föderalismus. Wenn man die Verfassung aber genauer anschaut, ist leicht zu merken, dass sie in grosser Eile erarbeitet werden musste. Pragmatische Überlegungen und Kompromisse zwischen den Kantonen spielten eine grosse Rolle. Im ersten Abschnitt werden vor allem geregelt:

  • Die Verhältnisse der Kantone untereinander und zum Bund:
    Die Kantone bleiben souverän, soweit ihre Kompetenzen nicht durch die Bundesverfassung beschränkt sind. Nach den Erfahrungen des Sonderbundskriegs werden ihnen Abkommen „politischer Art“ untereinander untersagt. Aussenpolitik ist Sache des Bundes. Die Verfassungen der Kantone müssen vom Bund „gewährleistet“ (akzeptiert) werden. Grossen Raum nimmt die Militärorganisation ein, die schon bestehende Zusammenarbeit wird stark ausgebaut. Die allgemeine Wehrpflicht wird eingeführt.
  • Post, Zoll, Mass und Gewicht, Münzwesen, Pulverregal:
    Diese staatlichen Aufgaben werden vom Bund übernommen. Binnenzölle werden abgeschafft. Damit entsteht erstmals ein einheitlicher Schweizer Wirtschaftsraum, ein „gemeinsamer Markt“ mit einer Währung. Verknüpft mit der Übernahme einiger Aufgaben war die Regelung des Finanzhaushaltes der Bundesinstitutionen: er sollte primär aus den Erträgen der Zölle und der Postverwaltung gedeckt werden. In Graubünden waren die Zollfragen dasjenige Thema, das am meisten zu reden gab, denn ein grosser Teil des Bündner Staatshaushalts wurde über Zolleinnahmen finanziert.
  • Die Stellung der Bürger, ihre politischen Rechte und Freiheitsrechte:
    Gleichheit vor dem Gesetz, Garantie des Bürgerrechts (es darf nicht entzogen werden), Garantie des Stimmrechts in eidgenössischen und kantonalen Angelegenheiten, Niederlassungsfreiheit (ausser für Juden), Recht auf Ausübung des Gottesdienstes, Pressefreiheit, Vereinsfreiheit, Petitionsfreiheit. Etwas versteckt findet sich bei der Niederlassungsfreiheit auch die Handels- und Gewerbefreiheit erwähnt. Gegenüber den Zuständen vorher und im Vergleich zu den umliegenden Staaten waren dies enorme Fortschritte. Aus heutiger Sicht wirken die Freiheiten vielfach eingeschränkt. Dass die einschlägigen Artikel vorbehaltlos nur für männliche Bürger galten, ist für die Zeitgenossen weitherum selbstverständlich und wird nicht thematisiert.

Im zweiten Abschnitt werden die bekannten und heute noch bestehenden Institutionen des Schweizer Bundesstaats mit ihren Kompetenzen aufgeführt:

  • Als „oberste Gewalt“ wird eine Bundesversammlung mit zwei Parlamentskammern eingerichtet, inspiriert vom amerikanischen Vorbild. Der Nationalrat sollte als Volksvertretung schweizweit vom Volk gewählt werden, auf 20’000 „Seelen“ traf es einen Nationalrat. Graubünden konnte von den 111 Nationalräten 4 stellen. Der Ständerat war als Kantonsvertretung mit je zwei Mitgliedern gedacht, in Graubünden wurden die zwei Standesvertreter vom Grossen Rat gewählt. Gegenüber der ehemaligen Tagsatzung war hier die entscheidende Neuerung, dass die National- und Ständeräte nicht mehr nach den Instruktionen ihrer Kantone stimmten.
  • Als „oberste vollziehende und leitende Behörde der Eidgenossenschaft“ wird ein Bundesrat mit sieben gleichberechtigten Mitgliedern eingesetzt. Hier hatte die Erinnerung an die helvetische Zeit (1798-1803) gewirkt, bereits damals hatte ein „Direktorium“ mit 5 bzw. 7 Mitgliedern bestanden. Als erster Bündner Bundesrat wirkte Simeon Bavier (1825-1896, Bundesrat 1878-1882). Die Organisation der Exekutive darf als Schweizer Spezialität betrachtet werden, sie ist sonst kaum irgendwo auf der Welt zu finden.
  • „Zur Ausübung der Rechtspflege, soweit diese in den Bereich des Bundes fällt“, wird ein Bundesgericht mit 11 Mitgliedern errichtet. Auch ein Bündner wurde gewählt: Johann Rudolf Brosi (1801-1877). Er war gleichzeitig Mitglied des Nationalrats. Die Gewaltenteilung funktionierte zwar auf institutioneller, aber längst noch nicht überall auf personeller Ebene.
  • Separat erwähnt wird die Bundeskanzlei, die erste Institution der nun entstehenden Bundesverwaltung. Der neue Bundesstaat war in den ersten Jahren noch sehr schlank. In der Zentralverwaltung waren sicher weniger als 100 Personen tätig.
  • Als „Sitz der Bundesbehörden“ wurde Bern bestimmt. Bis 1848 waren die Geschäfte des eidgenössischen Staatenbundes abwechselnd von den Vororten Zürich, Bern und Luzern geführt worden, und die Tagsatzung traf sich im Turnus an diesen Orten.

Der dritte und letzte Abschnitt betrifft die Revision der Bundesverfassung, eine Möglichkeit, die man bei ihrem Vorgänger, dem Bundesvertrag von 1815, schmerzlich vermisst hatte. Die Bestimmung, dass 50’000 Stimmberechtigte eine Totalrevision verlangen konnten, war der erste Schritt hin zur direkten Demokratie, die in grösserem Ausmass erst 1874 (Referendum) und 1891 (Volksinitiative) ausgebaut wurde. Bei allen Mängeln entstand mit der Bundesverfassung ein System, das dynamisch auf die Herausforderungen der Moderne reagieren konnte. Rasch entwickelten sich nun die Bundesgesetzgebung und die bundesstaatlichen Einrichtungen.

„Kein anderer Stand wurde von ihr [der Bundesverfassung] tiefer getroffen als Graubünden“, meint Peter Metz im Handbuch der Bündner Geschichte. Wie kommt Metz zu dieser Einschätzung? Es war offensichtlich, dass die geltende Bündner Verfassung von 1820 nicht kompatibel mit der Bundesverfassung war, weil hier das Mehr der Gerichtsgemeinden und nicht der Bürger galt. Für eine Revision der Verfassung war sogar ein Zweidrittelsmehr der Gerichtsgemeinden notwendig, eine fast unüberwindbare Hürde. Als Anforderung an die „Gewährleistung“ einer kantonalen Verfassung forderte der Bund aber, dass die absolute Mehrheit der Stimmberechtigten eine Revision beschliessen können müsse.

In den 1820er und 1830er Jahren war in Graubünden ein enormer Reformstau entstanden. Trotz zahlreicher Versuche waren keine Revisionen gelungen, welche die Macht der als „kleine Kantone“ funktionierenden Gemeinden eingeschränkt hätten. Es war nach 1848 klar, dass etwas zu geschehen hatte. Weiterhin verliefen die Verhandlungen über die Bündner Verfassung aber äusserst zäh. Graubünden gelangte in der Folge anfangs 1853 mit einer nur geringfügig ergänzten Verfassung an die eidgenössische Bundesversammlung, was zur Peinlichkeit führte, dass sowohl Stände- wie Nationalrat die Gewährleistung verweigerten. Nun ging es schnell: ein neuer Verfassungsentwurf wurde 1853 erarbeitet und bereits am 30. November 1853 von den Gerichtsgemeinden angenommen. Diesmal glückte die Gewährleistung durch die eidgenössische Bundesversammlung, und damit war das Primat der Gemeinden überwunden. Die Souveränität beruhte nun „auf der Gesamtheit des Volkes“ (Art. 1) und die Verfassung konnte gemäss den Anforderungen der Zeit weiterentwickelt werden.

Legenden

  1. Die Bundesverfassung auf einen Blick: In einer Art Wappenschild sind die sämtlichen 114 Artikel und die sieben Artikel der Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung vom 12. September 1848 zusammengefasst. Den Zeitgenossen war bewusst, dass die neue Verfassung einen grossen Schritt und eine Zeitenwende darstellte. Der Solothurner Künstler Lorenz Lüthy widmete seine Federzeichnung dem Bundesrat.
  2. Das „Graue Haus“ um 1832 in Chur. Das Vazeroldenkmal steht noch nicht. Hier tagten in den 1840er und 1850er Jahren sämtliche Gremien, welche die Bundesverfassung begutachten mussten: Kleiner Rat, Standeskommission und Grosser Rat.
  3. Von 1807 bis 1878 tagte hier im ehemaligen Festsaal des „Grauen Hauses“ unter dem Salis-Wappen in gedrängter Enge der Bündner Grosse Rat, am Schluss mit 71 Mitgliedern (Foto um 1925).
  4. Der erste Band der „Raccolta ufficiale delle leggi“, 1857 erschienen. Er beginnt mit der Bundesverfassung von 1848 und der Kantonsverfassung von 1854. Damit sind die Verfassungen definitiv im politischen und juristischen Alltag angekommen.