Schwerpunkt
Integration zwischen Nähe und Anonymität
Wie sich die Integration von geflüchteten in Stadt, Land und dazwischen unterscheidet – und wie alle Beteiligten voneinander lernen können.
Stadt oder Land? In der Schweiz ist diese Unterscheidung selten eindeutig. Der Grossteil der Bevölkerung lebt in Agglomerationen – also irgendwo dazwischen. Gleichwohl treffen wir auf kontrastreiche regionale Selbstverständnisse: Städterinnen, Dörfler oder Agglomerationsbewohnende unterscheiden sich oft nicht nur in ihren Alltagsrealitäten und Lebensgewohnheiten, sondern auch in ihren (politischen) Haltungen. Besonders spürbar wird das auf den ersten Blick bei Fragen rund um die Integration von Geflüchteten – Chur ist nicht Zürich, und Müstair nicht Chur. Doch welches Bild bietet sich uns auf den zweiten Blick? Während Studien in anderen Ländern einen nuancenreichen Überblick verschaffen, fehlen für die Schweiz Forschungsgrundlagen zum Stadt-Land-Vergleich (vgl. S. 8). Ein Blick in die praktische Erfahrungswelt ist daher einziger Anhaltspunkt.
Vielfalt durch Föderalismus
Die kulturellen Eigenheiten und föderalistischen Strukturen der Schweiz fördern eine geradezu einmalige Vielfalt an lokalen Integrationspraktiken. Jede Region entwickelt eigene Logiken – beeinflusst durch kantonale Vorgaben, kommunale Strukturen und das individuelle Engagement vor Ort. Eine Massnahme, die in Chur funktioniert, kann in der Gemeinde Tujetsch völlig an der Lebensrealität vorbeiführen – nicht zwingend aus ideologischen Gründen, sondern weil sich die Voraussetzungen, Erfahrungen und Netzwerke unterscheiden. Eine Studie der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart («Zwei Welten? Integrationspolitik in Stadt und Land») kam in einem ähnlichen, wenngleich deutschen Kontext 2020 zum Schluss: Die einfache Erzählung vom Gegensatz «Stadt versus Land» greift zu kurz. Integration findet nicht in zwei Welten statt, sondern in einem vielschichtigen Geflecht lokaler Kontexte und Handlungsspielräume.
Zentren der Integration
Traditionell zieht es Migrantinnen und Migranten, ebenso wie Geflüchtete, in urbane Räume – dorthin, wo Arbeitskraft, Wissen und Vielfalt besonders gefragt sind. Städte bieten ausserdem dichtere soziale Netzwerke, einfacheren Zugang zu Bildungsinstitutionen und eine breite Palette an Integrationsangeboten: Die Sprachkurse, Informationszentren, Beratungsstellen und Treffpunkte sind gleich ums Eck. Auch treffen hier Zugezogene auf etablierte Migranten-Communities, die sie beim Ankommen unterstützen und ihnen Orientierung und ein Umfeld bieten.
Doch längst nicht alle zieht es in diesen vermeintlichen Integrationsbeschleuniger. Manche bevorzugen das Landleben – sei es aus Vorliebe oder Gewohnheit im Herkunftsland, aus beruflichen Überlegungen oder weil sie, wie im Falle von Geflüchteten, von Behörden dorthin zugweisen werden. In der Schweiz entscheiden weitgehend die Kantone, wie und wo sie Geflüchtete unterbringen – in Graubünden unter anderem auch in Transitzentren wie in Cazis, Litzirüti, Pany oder Marmorera, also mit wenig Bewegungsfreiheit und fernab etablierter Integrationsinfrastrukturen. In der Peripherie übernehmen oft engagierte Pfadileiterinnen, Kirchgemeinden oder Nachbarinnen und Vereine Aufgaben, die anderswo professionelle Strukturen leisten (vgl. Beitrag Engagiert). Das gestaltet Integration nahbar und menschlich – birgt aber auch die Gefahr, dass individuelle Motivation über Systemlücken hinwegtäuschen, wie es die Soziologin Denise Efionayi-Maeder im Interview zu bedenken gibt (vgl. Interview mit Denise Efionayi-Mäder). Wenn das zivilgesellschaftliche Engagement formalisierte Angebote allerdings sinnvoll ergänzt und nicht nur ersetzt, beschleunigt es das Eintauchen in die lokale Sprache und das soziale Leben sogar massiv.
Koordination als Schlüssel
Der Auftrag der Fachstelle Integration liegt unter anderem in der aktiven Koordination und Mitgestaltung dieser Balance: Die Mitarbeitenden vermitteln, vernetzen, initiieren Projekte, klären Rollen und stimmen Angebote sorgfältig aufeinander ab – über ihre einzelnen Aufgabenschwerpunkte Sprachförderung, berufliche Integration oder soziale Teilhabe hinweg. Dafür braucht es Fachwissen, Flexibilität, Fingerspitzengefühl und vor allem ein fundiertes Verständnis für die unterschiedlichen Ausgangslagen und Lebensrealitäten der Menschen – sowohl der Geflüchteten als auch der Einheimischen. Ein anschauliches Beispiel liefert der Bereich Sprachförderung. Chur und Umgebung verfügen über eine breite Auswahl an Kursangeboten in unterschiedlichen Formaten, Lerntempi und Sprachniveaus. Auf dem Land ist diese Auswahl hingegen aus vielerlei Gründen begrenzt – zeitlich, räumlich und inhaltlich. Weil die Fahrzeit nach Chur für abgelegen Wohnende bisweilen sehr lang und kostenintensiv ist, gilt es nach pragmatischen Lösungen zu suchen. Die Fachstelle Integration verfolgt zwar zusammen mit den Gemeinden und Sozialämtern einen bedarfsgerechten regionalen Ausbau von Sprachkursen, immer möglich und finanzierbar ist er aber nicht. Unterstützen können auch hier ergänzende lokale Angebote wie Gesprächstandems mit Freiwilligen oder nachbarschaftliche Kinderbetreuung. Ohne eine hilfsbereite, kinderfreundliche Nachbarin könnte eine von der Fachstelle begleitete Mutter aus Riom nie einen Sprachkurse besuchen. Während ihr Ehemann hundert Prozent Schicht arbeitet, betreut sie die drei Kinder – familienergänzende Angebote fehlen.
Bessere Arbeitschancen?
Abhängigkeiten von regional unterschiedlichsten Gegebenheiten sind auch bei der beruflichen Integration zu beobachten. Gemäss aktuellen Daten des Staatssekretariats für Migration schneiden ländlich geprägte Kantone bei der Erwerbsquote von vorläufig aufgenommenen Personen und anerkannten Flüchtlingen überdurchschnittlich gut ab. Mögliche Gründe können laut Efionayi-Maeder engmaschigere persönliche Netzwerke oder ein hoher Bedarf an Arbeitskräften in hier stark vertretenen, niederschwelligen Branchen wie Landwirtschaft, Gastronomie und Tourismus sein. Wie auch immer: Der höhere Anteil an arbeitstätigen Geflüchteten widerspricht dem stereotypen Bild, dass Integration in Gegenden mit dichten Strukturen besser gelingt: Qualität schlägt bisweilen Quantität. Tatsächlich können in urbanen Zentren Überforderung, Bürokratisierung und Anonymität dazu führen, dass sich Geflüchtete allein fühlen oder sie ziehen sich aus naheliegenden Gründen eher in den eigenen Communitys zurück und verbleiben länger in den vielen Unterstützungsangeboten.
In der beruflichen Integration setzt die Fachstelle seit Jahren bewusst und mit Erfolg auf Jobcoaches. Sie wissen, dass es für eine tragfähige Integration nicht nur schnelle Lösungen braucht, sondern ein sorgfältiges Abwägen unterschiedlichster Faktoren, auch von regional unterschiedlichsten Gegebenheiten (vgl. Beitrag «Stadt, Land, Job»).
So oder so
Ob in der Stadt, auf dem Land oder in der Agglomeration, ob mit oder ohne wissenschaftliche Grundlagen – einfache und automatisierte Lösungen gibt es in der Integrationsarbeit keine. Sie gelingt vor allem dort, wo Menschen einander begegnen, gegenseitig Verantwortung übernehmen und Strukturen mit Leben und Individualität füllen. Genau in dieser Vielfalt liegt die Stärke der Schweiz und von Graubünden.
Text: Philipp Grünenfelder