Schwerpunkt
Daneben? Dazwischen? Mittendrin!
Die Frage, ab wann in der Schweiz jemand sozial integriert ist, spaltet die Geister. Was bedeutet das für die Integrationsarbeit von Bund und Kantonen? Eine Auslegeordnung.
Wie wichtig ist es, dass jemand hier geboren ist, um eine «richtige Schweizerin» oder ein «richtiger Schweizer» zu sein? Das wollten die Verfasserinnen und Verfasser der European Values Study 2022 wissen. 49.5 Prozent beantworteten die Frage mit «ziemlich wichtig» oder «sehr wichtig». Satte 85.5 Prozent waren es bei derselben Befragung in Bulgarien, lediglich 22.6 in Schweden. Nur sieben der 37 berücksichtigten Länder in Europa urteilen noch weniger streng als die verhältnismässig liberale Schweiz.
Darüber hinaus bestätigt die Studie, was die Lektüre von Kommentarspalten im Internet schön länger vermuten lässt: Die Meinungen und Positionen gehen auch innerhalb der Schweizer Bevölkerung stark auseinander. In eher ländlich geprägten Gegenden der Schweiz wird die Herkunft oder Zugehörigkeitsfrage höher gewichtet, als in urban geprägten Regionen der Schweiz. Je weiter links sich die Befragten im Politspektrum selbst verorten, desto weniger zentral ist ihnen dieser Aspekt. Entsprechend breit gefächert sind die Erwartungshaltungen rund um das Thema soziale Integration der zugewanderten Bevölkerung. Einmal abgesehen von der Erwartungshaltung, dass die hiesigen Institutionen und Gesetze geachtet werden müssen, was praktisch alle fordern. Ähnliches gilt für die Beherrschung einer der vier Landessprachen und für die eigene wirtschaftliche Unabhängigkeit. Aber darüber hinaus? Gelingt das Zusammenleben tatsächlich nur, wenn alle hier geboren sind? Alle die Landeshymne mitsingen können? Alle den Abfallsack am richtigen Tag rausstellen? Alle pünktlich sind? Alle in einem Dorfverein aktiv sind? Also alle vermeintlichen wichtigen Eigenschaften eines "richtigen Schweizers" aus dem FF beherrschen?
Für den Zusammenhalt
Die Sozialwissenschaft verwendet den Begriff soziale Integration unter anderem, um über die Stabilität innerhalb einer Gesellschaft zu sprechen. Sie setzt ihn in enge Verbindung mit Vorstellungen von Solidarität, Loyalität, und Zusammenhalt. Demnach ist die gleichberechtigte Teilhabe an kulturellen, sozialen und politischen Aktivitäten geradezu Voraussetzung für einen dauerhaften Zusammenschluss von Menschen zu einer Gesellschaft – ganz unabhängig von der Herkunft. Gelingt sie, minimiert das Spannungen, Menschen fühlen sich weniger isoliert, sind aktiv und bereiter, sich gegenseitig zu unterstützen. Auch bezogen auf die soziale Integration der Migrationsbevölkerung kommt hinzu, dass ihre Unterstützung mögliche Folgekosten minimieren kann, beispielsweise im Bereiche psychische und physische Gesundheit, worauf sich das Gefühl von Zugehörigkeit und Unterstützung positiv auswirkt.
Die Suche nach Kriterien
Die Steuerung, die Koordination und die Umsetzung der Integrationsförderung liegt in der Verantwortung der Kantone und Gemeinden. Gemeinsam haben sie sich mit dem Staatssekretariat für Migration (SEM) auf einheitliche Vorgaben geeinigt. Sie folgen in den wesentlichen Punkten der geäusserten Erwartungshaltung in der eingangs erwähnten Studie. Das zeigt zumindest der behördlich definierte Integrationsweg für vorläufig aufgenommene und anerkannte Flüchtlinge. In der so genannten Integrationsagenda gibt das SEM in Ergänzung zu den gesetzlichen Rahmenbedingungen vor, wie ihre Integration erfolgen soll. Das umfasst neben dem Erwerb einer der Landessprachen und einer Vorbereitung auf den Schweizer Arbeitsmarkt oder eine Ausbildung auch die soziale Integration. Letztere ist gemäss Integrationsagenda für jene Menschen besonders wichtig, die sich nicht ausbilden lassen oder in den Arbeitsmarkt integriert werden können, etwa betagte oder beeinträchtigte Geflüchtete. Während für die Bereiche Spracherwerb, Arbeit und Bildung die Erfüllungskriterien zur Erfolgsmessung klar formuliert sind, wird es bei der sozialen Integration auch in der Integrationsagenda schwammiger. Zwar heisst es beispielsweise, «alle anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen sind nach wenigen Jahren mit den schweizerischen Lebensgewohnheiten vertraut und haben Kontakte zur Bevölkerung», doch wie diese Einbindung überprüft werden kann, lässt die Integrationsagenda weitgehend offen. Zum Leidwesen der Kantone, die für die Erarbeitung ihrer Angebote auf vergleichbare Beurteilungen angewiesen sind. Das SEM hat diese Lücke erkannt und die Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaft (ZHAW) damit beauftragt, Messkriterien zu erarbeiten (vgl. Interview, S. 8).
Den Bedarf erkennen
Wie alle Kantone, konkretisiert auch Graubünden seine Integrationsmassnahmen in einem kantonalen Integrationsprogramm (vgl. Kasten). Darin legt die Fachstelle Integration die Schwerpunkte sowie die vorgesehenen Massnahmen und Angebote auf kantonaler und kommunaler Ebene fest. Sie sind in sieben Förderbereiche aufgeteilt und beziehen die Zusammenarbeit mit den Regelstrukturen im Bereich Bildung, Gesundheit und Sozialwesen genauso mit ein wie eigene Projekte und Initiativen aus der Zivilgesellschaft( vgl. S. 6). Einer der sieben Förderbereiche widmet sich dem Thema Zusammenleben und Partizipation. Er geht, wie die anderen auch, über den Flüchtlingsbereich hinaus und hat beim Thema soziale Integration mehr Bevölkerungsgruppen im Fokus als Betagte und Beeinträchtigte. Dass das notwendig und zielführend ist, zeigt den Verantwortlichen nicht nur die Erfahrung aus der täglichen Arbeit, sondern auch die geäusserten Bedürfnisse aus der Migrationsbevölkerung und von Einheimischen. Nach wie vor bestehen Unwissen, Vorurteile, Berührungsängste oder Hemmungen sowohl auf Seiten der Zugezogenen als auch bei den Einheimischen.
Eine gemeinsame Aufgabe
Zwar geschieht die soziale Integration von Zugewanderten oft fast selbstverständlich am Arbeitsplatz, in der Schule, beim Einkaufen, beim Sport oder auf dem Spielplatz. Doch manchmal braucht es in den Gemeinden, Quartieren oder in der Nachbarschaft spezielle Begegnungsorte und Projekte, die Menschen zusammenbringen oder ganz einfach zur Klärung beitragen von Alltagsfragen über die Eigenheiten in der Schweiz und Graubündens. Weil Integration bekanntlich ein gegenseitiger Prozess ist, spielen hier neben den besonders geforderten Regelstrukturen auch Vereine, Migrantenorganisationen oder religiöse Gemeinschaften eine zentrale Rolle. Die Fachstelle Integration bezieht sie aktiv in ihre Arbeit mit ein, oft auf Basis von freiwilligem Engagement, das im Falle der Freiwilligenarbeit von Migrantinnen und Migranten selbst Teil der sozialen Integration werden kann. Erkenntnisse aus Studien deuten darauf hin, dass sie stark zu deren seelisch-emotionaler Integration beiträgt, das heisst, zu ihrer selber wahrgenommenen Nähe zur Gesellschaft.
Was diese Ausgangslage insbesondere für den Lebensalltag der Migrationsbevölkerung selbst aber auch für die Akteurinnen und Akteure in den Regelstrukturen oder aus der Zivilgesellschaft bedeutet, beleuchten wir in der nächsten Ausgabe des MIX Magazin für Vielfalt Graubünden (vgl. S. 12).
Kantonales Integrationsprogramm 2024–2027 (KIP 3)
Im Jahr 2010 sind Bund und Kantone übereingekommen, die spezifische Integrationsförderung von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz weiterzuentwickeln und auf eine gemeinsame Strategie auszurichten. Gestützt darauf finanziert der Bund im Rahmen von Kantonalen Integrationsprogrammen (KIP) die Integrationsförderung in den Kantonen massgeblich mit. Ziel der KIP ist es, mit pragmatischen Lösungen unter Beachtung der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten Entwicklungsperspektiven für alle Bevölkerungsgruppen im Kanton zu schaffen. Das aktuelle KIP ist bereits die dritte Version und gilt seit Anfang dieses Jahres bis Ende 2027. Es ist auf der Webseite der Fachstelle Integration zugänglich.
Text: Philipp Grünenfelder