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Die Regierung an die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Graubünden

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger

2015 ist ein Jahr mit vielen schweizerischen Jubiläen. Wir greifen davon das Jahr 1815 heraus. Vor 200 Jahren wurde nach dem Schrecken der napoleonischen Kriege auf dem Wiener Kongress Europa neu geordnet. Ein Gleichgewicht sollte den Frieden zwischen den europäischen Grossmächten stabilisieren, der in der Folge immerhin rund fünfzig Jahre hielt. Eingebettet wurde darin die ebenfalls neu formierte Schweiz, ausgerüstet mit dem positiven Erbe der Französischen Revolution. So bildete die Eidgenossenschaft ab 1815 einen souveränen Staatenbund von zweiundzwanzig gleichberechtigten Kantonen, institutionell allerdings nur sehr dürftig zusammengehalten durch die Tagsatzung, eine Art kantonaler Delegiertenkonferenz. 1848 wurde die Schweiz nach einem kurzen Bürgerkrieg zu einem Bundesstaat umgestaltet, dessen Verfassung im Prinzip bis heute gilt. Bemerkenswert: Das Jahr 1815 war auch der Beginn einer dreijährigen Hungersnot in der Schweiz.

Vor 200 Jahren mussten die Bündner als anfänglich eher „unfreiwillige“ Schweizer in ihre kantonale Identität erst hineinwachsen. Der Kanton Graubünden ist dabei auch ein Produkt des Zeitalters der Aufklärung. Diese enthielt revolutionäres Potenzial, bezog ihre Kraft aber auch aus genuin christlichen Wurzeln. Die Postulate der Würde, der Freiheit und der Gleichstellung der Menschen stammen aus der Botschaft Jesu und dem Neuen Testament. Oft wird die Säkularisierung der letzten 200 Jahre als fortschreitende Entchristlichung und Entkirchlichung wahrgenommen und beklagt. Damit wird aber übersehen, dass die Menschenrechte, die humane Justiz und vor allem der Ausbau des Sozialstaates der letzten siebzig Jahre gelebtes Christentum sind. Hierzulande muss niemand mehr verhungern oder ohne Betreuung und Pflege dahinsiechen. In gewissem Sinn ist unsere gegenwärtige gesellschaftliche Prägung und Wirklichkeit christlicher als alle Jahrhunderte zuvor. Die Vergangenheit wird in ihrer Christlichkeit oft überschätzt und die Gegenwart entsprechend unterschätzt. Das christliche Bekenntnis hat sich auf die Praxis verlagert. Man beruft sich in der Öffentlichkeit nicht auf Gott, zehrt aber vielfach von den besten Elementen des christlichen Erbes. Da haben wir Grund zu danken. Anerkennen ist auch in einem Bettagsmandat wichtiger als Aberkennen. Mit einem Lamento ist niemandem gedient.

Wir dürfen in unserem Land schon sehr lange in Frieden leben. Der Friede ist ein Produkt von Gerechtigkeit, und diese ist nur in Freiheit vollziehbar. Der Mystiker und politische Ratgeber Niklaus von Flüe hat den Frieden als Leben aus Gott verstanden. Aber für ihn war auch klar, dass die Geschäfte des Alltags nicht übersprungen werden dürfen. Die Dinge dieser Welt müssen geordnet werden im Hören der Menschen aufeinander. Der reformierte Zürcher Pfarrer und Theologieprofessor Emil Brunner, ein Schüler des religiös-sozialen Bündner Pioniers Leonhard Ragaz, betonte in der beginnenden Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg, dass die christliche Botschaft den persönlichen Glauben und das gesellschaftliche Engagement postuliere. Freiheit, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung gehören zusammen.

Die Ökumene unter den christlichen Kirchen ist ein gesunder Dauerbrenner geworden. Und in der Praxis lebt da viel mehr als in der Theorie. Den Anliegen des christlichen Zusammenlebens dienen auch die partnerschaftlichen Strukturen zwischen den Kirchen und dem Staat, die sich in langer Geschichte herausgebildet und bewährt haben. Wir müssen Sorge tragen, dass sie weiterhin Bestand haben. Sie erhalten und pflegen den konfessionellen Frieden innerhalb der Kirchen und zwischen den Kirchen.

Auch ausserhalb des religiösen Bereichs tragen unsere gesellschaftlichen Strukturen nicht nur zur wirtschaftlichen und sozialen Wohlfahrt bei, sondern auch zu einer gesunden geistigen Kultur. Menschen, die von einem persönlichen Gottesglauben Abschied genommen haben, entfalten oft eine erstaunliche humane Ethik. Zudem ist heutzutage auch eine weiterführende Ökumene mit nichtchristlichen Religionen und Bekenntnissen gefordert. Toleranz ist in diesem Kontext eine gefragte Tugend. Sie kann nur auf gleicher Augenhöhe gedeihen und erschöpft sich nicht in einem simplen „Leben-Lassen“. Toleranz hat allerdings keineswegs bloss eine religiöse Dimension. Dazu gehören unter anderem die Einstellung und das Verhalten zum Zuzug von Menschen aus anderen Ländern und Kulturen. Gelingt ihre Integration, liegt darin für alle ein Gewinn.

Das vergangene Jahr war in Europa das grösste Krisenjahr seit der grossen weltpolitischen Wende der Jahre 1989/90 und des darauf folgenden Krieges auf dem Balkan. Eskalierende Konflikte im Nahen Osten mit schlimmstem Terrorismus oder die plötzlich explodierte kriegerische Auseinandersetzung in der Ostukraine haben uns unvermittelt vor Augen geführt, wie ungesichert und zerbrechlich der Friede sein kann.

Unser flächenmässig grösster Kanton ist in mancher Hinsicht eine Schweiz im Kleinformat, vor allem im Miteinander verschiedener Sprachen. Graubünden hat gewaltige natürliche Ressourcen an Wasser, Land und Baustoffen. Im biblischen Schöpfungsbericht steht die Botschaft vom Auftrag Gottes an die Menschen, sich die Erde untertan zu machen. Das haben wir befolgt, bis wir an die Grenzen gekommen sind, wo die ausgebeutete Schöpfung sich wehrt und zurückschlägt. Diesbezüglich sind wir hellhörig, ja sehr sensibel geworden. Aber der Aufruf bleibt, die Natur nicht bloss als Beute zu nehmen, sondern zu bewahren.

Wir sollen und wollen eine Wertegemeinschaft sein. Werte gedeihen aber nicht als abstrakte Begriffe. Ohne den Träger Mensch sind Werte wertlos und nutzlos. Der Bettag möge uns daran erinnern, dass alles auf die einzelne Person und die Gemeinschaft ankommt, sich dieser anzunehmen und sie mit Leben zu füllen.

Über all unserm täglichen Leben und Wirken steht und stellt sich immer auch die Sinnfrage, die wir letztlich nicht beantworten können. So wird die bettägliche Formel, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger der Obhut Gottes anzuvertrauen, nicht bloss zur wiederholten Floskel, sondern zum Bekenntnis, dass wir von einem universalen Geheimnis umfangen sind, das viele Gott nennen. Und es bleibt die Bitte, darin aufgehoben und getragen zu werden.

Chur, im September 2015   

Namens der Regierung
Der Präsident: Martin Jäger         
Der Kanzleidirektor: Claudio Riesen

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