Der Blick auf die Armutssituation in Graubünden zeigt, dass 1,3 Prozent der kantonalen Bevölkerung im vergangenen Jahr Unterstützungsleistungen durch die Sozialhilfe benötigt haben. Diese Quote ist eine der tiefsten der Schweiz (CH: 3,2 Prozent). Die Sozialhilfequote der Kinder und Jugendlichen zwischen 0 und 17 ist höher und beträgt in Graubünden 2,4 Prozent (CH: 5,2 Prozent). Der Anteil der Kinder und Jugendlichen an allen Personen, welche Sozialhilfe benötigen, beträgt rund 30 Prozent. Er blieb in den vergangenen Jahren konstant hoch.
Ein wirksames Vorgehen gegen Familienarmut setzt auf verschiedenen Ebenen mit verschiedenen Massnahmen an. Um die Armut nachhaltig zu bekämpfen, sind Strukturen notwendig, welche es Familien ermöglichen ihre Existenz zu sichern. Die Ursachen der fehlenden finanziellen Mittel liegen gemäss der Studie Kommunale Strategien, Massnahmen und Leistungen zur Prävention und Bekämpfung von Familienarmut (im Auftrag des Nationalen Programms zur Prävention und Bekämpfung von Armut / Bundesamt für Sozialversicherungen [BSV], 2016) in den beschränkten Verdienstchancen der Eltern. Diese entstehen durch fehlende Qualifikationen (z. B. Ausbildung, Sprache), gesundheitliche Einschränkungen oder soziale Belastungen. Weiter können Trennungen, Scheidungen und Kosten für die Kinder zu einer Armutssituation führen.
Die Studie zeigt weiter auf, dass armutsbetroffene und armutsgefährdete Familien keine homogene Gruppe sind, weshalb die Situation der Familien nicht mit einer einzigen Massnahme nachhaltig verbessert werden kann. Neben der finanziellen Existenzsicherung stehen insbesondere Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Förderung der Erwerbsintegration von Personen mit Kinderbetreuungsaufgaben, Nachholbildung aber auch die Beratung und Begleitung sozial benachteiligter Familien im Zentrum.
Die Regierung setzt mit der Förderung der Familienfreundlichkeit (ES 4.3) und der Unterstützung geeigneter Strukturen im Regierungsprogramm 2021–2024 einen Schwerpunkt. Das Programm "Kinder- und Jugendpolitik im Kanton Graubünden" und die Vorlage zur neuen Finanzierung der familienergänzenden Kinderbetreuung beinhalten konkrete Massnahmen, um die Ursachen der Familienarmut zu reduzieren, strukturelle Hindernisse zu beseitigen und Familien damit in der eigenständigen Existenzsicherung zu stärken. Die Regierung setzt mit den Massnahmen bei verschiedenen Gruppen an und berücksichtigt Kinder und Jugendliche jeden Alters.
Eine Mehrheit der Bündner Bevölkerung hat sich im Rahmen der Referendumsabstimmung vom 13. Juni 2021 betreffend die Stärkung der familienergänzenden Kinderbetreuung – Aufhebung des Gesetzes über die Mutterschaftsbeiträge für die Beibehaltung der Mutterschaftsbeiträge, d. h. der bestehenden Familienleistung, ausgesprochen. Die Regierung teilt grundsätzlich die Einschätzung der Unterzeichnenden, dass das Instrument der Mutterschaftsbeiträge reformbedürftig ist. Aufgrund des Abstimmungsergebnisses erachtet es die Regierung als nicht opportun das Instrument der Mutterschaftsbeiträge mit Familienergänzungsleistungen (Familien-EL) zu ersetzen. Familien-EL sind in der Regel an erwerbstätige Familien mit geringen Einkommen und kleinen Kinder gerichtet. Alleinerziehende, nicht erwerbstätige Mütter, welche nach dem bestehenden Modell in Graubünden Mutterschaftsbeiträge erhalten, hätten in Kantonen mit Familien-EL keinen Anspruch auf Familien-EL. Zudem berücksichtigen Familien-EL die Armutssituation älterer Kinder und Jugendlicher nicht.
Im Auftrag wird davon ausgegangen, dass kantonale Familien-EL eine potenzielle Entlastung für die Sozialhilfekosten der Gemeinden darstellen. Der Vergleich der Finanzstatistik der Kantone mit Familien-EL legt die Vermutung nahe, dass es insgesamt nicht zu Kosteneinsparungen bei der Sozialhilfe kommt. Vielmehr sind mit der Einführung von Familien-EL aufgrund der Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten und der höheren Leistungen steigende Ausgaben der öffentlichen Hand zu erwarten.
Aufgrund dieser Ausführungen beantragt die Regierung dem Grossen Rat, den vorliegenden Auftrag abzulehnen.
1. September 2021