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Session: 21.04.2022

Die Bundesversammlung verabschiedete am 19. Dezember 2008 das totalrevidierte Vormundschaftsrecht, welches am 1. Januar 2013 unter dem neuen Namen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht (KESR) in Kraft trat. Darin streng gefordert war der Wechsel von erstinstanzlichen Miliz- und Laienbehörden zu interdisziplinär zusammengesetzten professionellen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB). Auf kantonaler Ebene fand die Umsetzung mittels einer Teilrevision des Einführungsgesetzes zum ZGB (EGzZGB, BR 210.100) und dem Erlass einer Verordnung zum Kindes- und Erwachsenenschutz (KESV, BR 215.010) statt. Im Kindesschutz sind seither jedoch aufgrund von Revisionen des Kindesrechts Änderungen von erheblicher Bedeutung eingetreten. Den mit dem Übergang von der Pionier- in eine Konsolidierungsphase und im neuen Kindes- und Erwachsenenschutzrecht gemachten Erfahrungen hat im Februar 2021 der Grosse Rat mittels einer Teilrevision des EGzZGB Rechnung getragen. Der revidierte Art. 63a Abs. 3 bis Abs. 7 regelt die Finanzierung der Kosten von stationären Kindesschutzmassnahmen. Neu ist die Gemeinde am zivilrechtlichen Wohnsitz des betroffenen Kindes verpflichtet, diese Kosten zu tragen bzw. zu bevorschussen (Art. 63a Abs. 3).

Der Abrechnungsprozess von stationären Kindesschutzmassnahmen weist jedoch bereits nach ersten Umsetzungserfahrungen in der Praxis erhebliche Probleme auf. Um allfällige Elternbeiträge zu prüfen, zu berechnen und gegebenenfalls auch einfordern zu können, müssen die Gemeinden über die Massnahmen orientiert sein und die notwendigen Dokumente von den Inhabern der elterlichen Sorge einfordern. Aufgrund fehlender sprachlicher bzw. kognitiver Kompetenz, Verweigerung etc. werden diese jedoch teilweise nicht eingereicht. Im Streitfall ist zudem eine Unterhaltsklage gegen die Eltern geltend zu machen – was nicht durch eine hoheitliche Verfügung einer Gemeinde möglich ist. Die mit diesen Prozessen zu erfüllenden Aufgaben der Steuerung, Prozessbegleitung, Rechnungsführung, Koordination mit anderen Dienststellen sowie des Controllings erfordern zwingend mehr personelle Ressourcen und sind aufgrund der unterschiedlichen Kompetenzen auf verschiedene Personen zu verteilen.

Diejenigen Elternbeiträge, die aufgrund fehlender Mittel über die wirtschaftliche Sozialhilfe ausgerichtet werden, müssen in Fällen von Ausländern dem Amt für Migration gemeldet werden, wenn sie dadurch die Ausrichtung von Fürsorgeleistungen zur Folge haben. In der Praxis kann sich damit der Bezug von fürsorgerischen Leistungen nachteilig auf das Aufenthaltsbewilligungsverfahren auswirken. Bei Inhabern der elterlichen Sorge, die ausserkantonalen Wohnsitz haben, ist zudem das kantonale Gesetz (EGzZGB) nicht anwendbar.

Daher werden von den Unterzeichnenden nachfolgende Fragen an die Regierung gestellt:

  1. Mit dem totalrevidierten Vormundschaftsgesetz wurde eine Professionalisierung gesetzlich verankert. Warum sieht das kantonale Gesetz im Bereich Tragung von Kosten im Kindesschutz nun vor, den Auftrag «Abrechnungsprozess und Elternbeitrag» einer Miliz- und Laienbehörde zuzuteilen und damit sämtliche persönlichen, besonders schützenswerten Daten der Betroffenen von diesen bearbeiten zu lassen? Wie können zudem die Betroffenen geschützt werden, wenn der Konflikt besteht, dass die Milizbehörde auch Arbeitgeberin ist?
  2. Für die KESB wurden 7,2 neue Vollzeitstellen geschaffen, jedoch nicht für die Gemeinden, welche durch die Revision einen Mehraufwand haben. Durch das Vorgehen im Abrechnungsprozess findet eine Lastenverschiebung zu den Gemeinden statt, welche durch den 20-prozentigen Elternbeitrag nicht zu decken ist und im Soziallastenausgleich (SLA) keine Berücksichtigung findet. Wie gedenkt die Regierung einen Ausgleich vorzunehmen?
  3. Der Begriff Eintrittsschwelle bezeichnet den rechnerischen Grenzbetrag zur Beurteilung der Unterstützungsbedürftigkeit. Findet der Elternbeitrag bei der Berechnung Berücksichtigung und kann das bei Eltern mit Aufenthaltsbewilligung zur Meldepflicht führen?
  4. Bei Eltern, die einen ausserkantonalen Wohnsitz begründen, ist die Berechnung des Elternbeitrages gemäss Art. 63a Abs. 4 EGzZGB im Gegensatz zu Eltern, die einen kantonalen Wohnsitz begründen, nicht anwendbar. Was erfolgt in der Praxis in solchen Fällen? Entspricht das den Grundsätzen der Rechtsgleichheit?
  5. Neu berechnen und verfügen die Gemeinden den Elternbeitrag, was in kleinen Gemeinden zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führt. Wie gedenkt die Regierung diese Problematik zu beheben?

Chur, 21. April 2022

Valär, Preisig, Sax, Alig, Berther, Berweger, Brandenburger, Caluori, Cantieni, Censi, Claus, Degiacomi, Dürler, Ellemunter, Engler, Favre Accola, Felix, Flütsch, Föhn, Gugelmann, Hartmann-Conrad, Hitz-Rusch, Hohl, Holzinger-Loretz, Jochum, Kienz, Kunz (Chur), Lamprecht, Marti, Mittner, Natter, Niggli-Mathis (Grüsch), Noi-Togni, Papa, Ruckstuhl, Rüegg, Stiffler, Tanner, Thomann-Frank, Thür-Suter, Tomaschett-Berther (Trun), von Ballmoos, Weidmann, Wellig, Wieland, Wilhelm, Bürgi-Büchel, Patzen, van Kleef

Antwort der Regierung

Zu Frage 1: Die Änderung von Art. 63a Einführungsgesetz zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch (EGzZGB; BR 210.100) per 1. Januar 2022 hatte keinen Einfluss auf den Datenaustausch zwischen der KESB und der Gemeinde. Die Gemeinden erhalten neu jedoch Kenntnis von sämtlichen im Kindesschutz anfallenden Kosten. Durch die auszugsweise Zustellung des Entscheiddispositivs wird der Datenfluss zum Schutz der Betroffenen auf das nötige Minimum beschränkt. Wenn eine Gemeinde als Arbeitgeberin von einer Kindesschutzmassnahme Kenntnis erhält, so wird der betroffene Mitarbeitende durch das Amtsgeheimnis gemäss Art. 320 Schweizerisches Strafgesetzbuch (StGB; SR 311.0) geschützt. Personendaten dürfen nur zu dem Zweck bearbeitet werden, der bei der Beschaffung angegeben wurde, aus den Umständen ersichtlich oder gesetzlich vorgesehen ist. Zudem müssen die Personendaten durch angemessene technische und organisatorische Massnahmen gegen unbefugtes Bearbeiten geschützt werden (Art. 4 Abs. 3 und Art. 7 Bundesgesetz über den Datenschutz [DSG; SR 235.1]). Im Übrigen ist von einer einwandfreien Personalführung der Gemeinden auszugehen, welche die privaten Lebensbereiche der Mitarbeitenden respektiert.

Zu Frage 2: Bereits vor dem 1. Januar 2022 prüften die Gemeinden eine Kostenbeteiligung der Eltern. Dies tat sie im Rahmen der wirtschaftlichen Sozialhilfe. Bei dieser Prüfung musste regelmässig ein Anspruch gegenüber dem anderen Elternteil auf Leistung von Kindesunterhalt berücksichtigt werden, was der heutigen Berechnung der Elternbeiträge gleichkommt. Obwohl die Berechnung der Elternbeiträge durch die Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) definiert wird, handelt es sich dabei nicht um Sozialhilfekosten. Die neuen Aufgaben erhöhen im Einzelfall weder den Abklärungsaufwand noch die Komplexität der sich stellenden Rechtsfragen. Sie führen jedoch zu einem Mehraufwand aufgrund der Anzahl Fälle, die bei der Gemeinde abgewickelt werden. Die Mitwirkungspflicht der Eltern zur Offenlegung ihrer finanziellen Verhältnisse bleibt dabei nach wie vor von zentraler Bedeutung. Die Gemeinde kann im kooperativen Austausch mit den Eltern eine einvernehmliche Vereinbarung treffen, wodurch die Berechnung eines Elternbeitrags gänzlich entfällt. Mit den neu geschaffenen 7.2 Vollzeitstellen konnten einerseits die anfängliche Fehlkalkulation in Bezug auf den Personalbedarf bereinigt andererseits der neu geschaffene Stab der KESB ausgestattet werden.

Zu Frage 3: Die Inhaber der elterlichen Sorge beteiligen sich an den Kosten von Kindesschutzmassnahmen im Umfang des von der SKOS definierten Elternbeitrags. Sind sie wirtschaftlich nicht in der Lage, den Mindest-Elternbeitrag von 10 Franken pro Tag zu leisten, kommt das Gemeinwesen für diesen auf, welches für die öffentlich-rechtliche Unterstützung der Inhaber der elterlichen Sorge zuständig ist (Art. 63a Abs. 4 EGzZGB). Dieser Elternbeitrag im Umfang von 10 Franken pro Tag stellt Sozialhilfe dar und führt entsprechend zu einer Meldepflicht im Sinne von Art. 82b der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit (VZAE; SR 142.201). Es ist davon auszugehen, dass diese Regelung grossmehrheitlich auf Personen Anwendung findet, die bereits Sozialhilfe empfangen, so dass es nicht zu einem Wechsel der Zuständigkeit kommt.

Zu Frage 4: Die Zuständigkeit zur Kostentragung von Kindesschutzmassnahmen kann sich während einer laufenden Kindesschutzmassnahme durch einen Umzug der Eltern in einen anderen Kanton verändern. Für die fortlaufende Überprüfung und Klärung der Zuständigkeit ist die zahlungspflichtige Gemeinde verantwortlich. Die kantonalen Regelungen der Kostentragung der Kindesschutzmassnahmen durch die öffentliche Hand sind aufgrund der föderalistischen Struktur heterogen ausgefallen und dementsprechend im Einzelfall abzuklären.

Zu Frage 5: Die Gemeinde kann entweder im kooperativen Austausch mit den Eltern eine einvernehmliche Vereinbarung treffen oder aber den Rechtsweg beim Zivilgericht beschreiten. Demnach ist die vormalige Verfügung von wirtschaftlicher Sozialhilfe in diesem Zusammenhang nicht mehr zulässig. Dass die Kosten stationärer Kindesschutzmassnahmen über den Pool abgerechnet werden und dass es sich bei den von der Gemeinde getragenen Kosten – mit Ausnahme der bei Frage 3 abgehandelten Fälle – nicht um Sozialhilfekosten handelt, wirkt der befürchteten Stigmatisierung ebenfalls entgegen. Im Übrigen sei analog auf die obigen Ausführungen zu Frage 1 verwiesen.

22. Juni 2022