Integration 365
«I love you, Oma»
Was der Verein Offene Viamala im Raum Thusis alles leistet, erlebt man beispielhaft in seinem Familientreff. Vorsicht, es wird lebendig.
Bereits im Freien hört man fröhliche Kinderstimmen. Sie locken über eine Betonrampe in ein graues Gewerbegebäude. Im Inneren die schöne Überraschung: ein bunter Raum voller Leben. An einem farbbefleckten Basteltisch sitzt Mary, rundherum kleine Händen, die schneiden, falten, malen, kleben. In einer Spielecke türmt ein Mädchen Holzklötze aufeinander, ein Junge schmiegt ein Plüschtier in seine Arme, zwei andere Kinder spielen freudestrahlend Fangen. Ihre Eltern – meist aus Syrien, Eritrea, Afghanistan oder der Türkei – plaudern bei Kaffee, Tee und Gebäck. Mal zu zweit, mal in Grüppchen. Mal gedämpft, meist begleitet von herzhaftem Lachen. Sie tauschen sich aus – über das neue Leben in der Schweiz, Sorgen, Freuden, Hoffnungen.
Ein Ort, den man vermissen würde
Für Birivan ist der zweiwöchentlich stattfindende Familientreff im Thusner Jugendraum «Glais 18» längst mehr als ein Begegnungsort. «Ich habe meine Arbeitszeiten extra so geregelt, dass ich jedes Mal kommen kann», erzählt die Syrerin. «Ich habe keine Kinder und ausser meinem Mann auch keine Angehörigen in der Schweiz – das hier ist meine Familie.» Sie strahlt, während ihre Geste in den Raum weist. Leider könne ihr Mann wegen der Arbeit als Sanitärinstallateur mittlerweile nicht mehr dabei sein. «Er findet es ebenfalls grossartig.» Ähnlich klingt es bei Hanan aus Eritrea. Sie schätzt das Angebot, in dessen Rahmen sich so vieles auf einmal abspielt: «Mein zweijähriger Sohn Ayan findet hier Kinder zum Spielen und ich Kontakte zu Einheimischen und Eltern in ähnlichen Situationen.» Man erfahre Nützliches zur Stellensuche, gebe oder erhalte Tipps für die anstehende Einschulung der Kinder, helfe sich bei der schwierigen Wohnungssuche... «Und wenn wir untereinander keinen Rat mehr wissen, ist Hanna da.»
Etwas vom eigenen Glück abgeben
Hanna Eschenbacher ist eines der Herzen des Treffpunkts. Sie leitet das Angebot des Vereins Offene Viamala zusammen mit Erika, Ines, Jutta, Käthy, Margrith, Mary und Nurhak. Die Thusnerin engagiert sich nicht nur an den Treffen selbst, sondern bei Bedarf auch darüber hinaus. Sie begleitet bei Amtsgängen oder vermittelt aus dem vereinseigenen Brockenstübli ein dringend benötigtes Möbel. Von einem Geschwisterpaar, das sie auch mal zum Kinderarzt begleite, habe sie kürzlich zum Geburtstag ein Papierherz bekommen. «I love you, Oma» stand darauf. «Ich bin kinderlos und hier trotzdem zur Grossmutter geworden», erklärt sie gerührt. Sie sei in einem christlich-sozialen Haushalt gross geworden fährt Hanna fort, «und durfte seither viel Gutes erleben. Jetzt möchte ich von diesem Glück etwas abgeben.» Ihre Worte stehen für die Stimmung im ganzen Team: offen, neugierig, grosszügig. Das Leitungsteam kommt selbst aus der halben Welt und besticht durch Vielfalt: Mary zog von Chicago in die Region Thusis, die Kurdin Nurhak aus der Türkei, Hanna selbst ist in Deutschland geboren, die Schweizerinnen sprechen verschiedene Dialekte. Sie alle bringen unterschiedlichste Lebenserfahrungen und berufliche Hintergründe mit. Einmal im Monat ist eine juristische Beraterin im Familientreff anwesend. Fragen zum Mietrecht (Was, wenn die Waschmaschine kaputt ist?), zum Aufenthaltsrecht (Wie funktioniert das mit den Fristen im Familiennachzug?) und zu vielerlei anderem Paragrafen-Wirrwarr finden bei ihr ein vertrauliches Ohr.
Die Kraft der ganze Region
Der Verein Offene Viamala schliesst wichtige Lücken abseits der dichten Integrationsstrukturen um Chur – nicht nur mit dem Familientreff. Deshalb wird er durch die Fachstelle Integration finanziell mitunterstützt. Entstanden ist das Engagement vor rund neun Jahren auf Initiative von Marlen Schmid Nyfeler, die das Projekt als Präsidentin bis heute mit Herzblut vorantreibt. So wuchs die Mitgliederzahl seit der Gründung von rund einem Dutzend auf 330 Menschen aus der ganzen Region. Über 60 davon betreuen in ihrer Freizeit regelmässig Angebote, von denen bis zu 120 Einzelpersonen und Familien profitieren. Sie leiten einen Handarbeitstreff, der Fingerfertigkeit und Gespräche verbindet. Sie organisieren Sport- und Schwimmangebote, um in Bewegung zu kommen. Sie engagieren sich in Tandemprojekten, in denen Einheimische Menschen mit Fluchthintergrund im Alltag begleiten. Sie geben Deutschunterricht, dort, wo es sonst keine Kurse gäbe. Sie unterhalten eine kostenlose Beratungsstelle, die bei Fragen zu Aufenthaltsrecht, Arbeit oder Wohnen unterstützt. Und sie laden zum äusserst beliebten Kochen mit Flüchtlingen ein, bei dem über den Tellerrand hinaus Begegnungen entstehen. Zusammen kommen so jährlich rund 8000 ehrenamtliche Arbeitsstunden. Baldige Dankespost mit einem «I love you, Offene Viamala», würde deshalb niemanden überraschen.
offeneviamala.ch
Text: Philipp Grünenfelder