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«Wir müssen näher an reale Lebenswelten herangehen»

Peter Streckeisen ist Professor am Institut für Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe der ZHAW. Im Auftrag des Bundes fragt er sich, wie soziale Integration gemessen werden kann.


Interview: Philipp Grünenfelder


Herr Streckeisen, Sie befassen sich beruflich viel mit dem Thema soziale Integration. Haben Sie sich persönlich auch schon mal in einem zuvor völlig unbekannten Umfeld zurechtfinden müssen?

Peter Streckeisen (PS): Wenn Sie damit eine Migrationserfahrung über Landesgrenzen hinweg meinen, dann nicht. Meine Familie stammt weit zurück zwar aus dem Elsass, ich bin aber im Thurgau aufgewachsen. Studiert habe ich anschliessend in Lausanne – da war ich zumindest Binnenmigrant und musste mich neben dem Sprachwechsel vom Land- an das Stadtleben gewöhnen. Auch wenn meine Migrationserfahrung im Vergleich zu Geflüchteten sehr begrenzt ist, kann die Reflexion darüber helfen, die Herausforderungen von Menschen mit internationaler Migrationsgeschichte besser zu verstehen.

Unter dem Begriff soziale Integration wird in der Bevölkerung ganz Unterschiedliches verstanden. Wie definieren Sie ihn aus wissenschaftlicher Perspektive?

PS: Je nach Disziplin werden andere Faktoren betrachtet und gewichtet. Allerdings ist sich die Wissenschaft inzwischen weitgehend einig, dass es bei der sozialen Integration nicht darum geht, einen Menschen als kleines Zahnrädchen zu verstehen, das man nahtlos in ein grosses Räderwerk einfügen muss. Dieses Bild, das in der Politik da und dort noch anklingt, ist längst überholt. Vielmehr geht es um die vielschichtige Frage, wie wir es schaffen, dass sich Menschen möglichst gleichberechtigt in die Gesellschaft einbringen und ihr Lebensumfeld mitgestalten können.

Der Bund hat in der Integrationsagenda für Geflüchtete Wirkungsziele für diese Wege definiert (vgl. S. 4). Nur, wie lassen sich diese messen? Das Staatssekretariat für Migration hat Sie und ihr Team beauftragt, einheitliche Indikatoren dafür zu erarbeiten. Wie gehen Sie vor?

PS: In einem ersten Schritt ging es darum, sich darüber zu verständigen, wie soziale Integration überhaupt definiert wird. Die Sozialpolitik fasst das Feld der sozialen Integration beispielsweise enger als Fachpersonen in öffentlichen Einrichtungen oder Praxisinstitutionen. Nochmals anders definiert die Forschung den Begriff. Und was denken die Geflüchteten selbst? Deren Erfahrungen und Perspektiven gingen bisher viel zu oft unter. Wir befragten deshalb bewusst auch vorläufig aufgenommene Personen und anerkannte Flüchtlinge selbst, redeten mit ihnen statt über sie.

Wo stehen Sie aktuell in diesem Projekt?

PS: Wir haben Schlüsselkriterien für die Bewertung der sozialen Integration erarbeitet. Sie beziehen Förderangebote und Behördenkontakte genauso mit ein wie die Wohnsituation, Kontakte zur lokalen Bevölkerung, Teilnahme an Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit sowie das subjektive Wohlbefinden und die Selbstbestimmung der Geflüchteten. Jetzt erarbeiten wir das Erhebungskonzept, also die konkreten Mittel, wie Daten zu diesen Schlüsselkriterien in Erfahrung gebracht werden können. Darin werden Gespräche mit Geflüchteten ebenfalls eine grosse Rolle spielen. Wir müssen näher an reale Lebenswelten herangehen, und dafür braucht es einen qualitativen Zugang. Sonst besteht die Gefahr, mit scheinbar repräsentativen Daten wenig aussagekräftige oder falsche Bilder zu zeichnen. Letztlich gibt es nicht den einen Indikator, um soziale Integration zu messen.

Unsere Lebensentwürfe werden allgemein immer diverser. Haben sich dadurch auch die Debatten über soziale Integration verändert?

PS: Im Feld der sozialen Arbeit sind wir es uns gewohnt, gesellschaftliche Entwicklungen und aktuelle Tendenzen kontinuierlich miteinzubeziehen. Die Kunst liegt darin, angesichts der zunehmenden Vielfalt die Strukturen sozialer Ungleichheit nicht aus den Augen zu verlieren. Nach wie vor behindern hauptsächlich Klassenunterschiede die Teilhabe an der Gesellschaft. Geflüchtete sind materiell oft besonders schlecht gestellt. Wenn es mit ihrer sozialen Integration nicht klappt, heisst es schnell einmal, «die haben halt traditionelle Familienvorstellungen» oder «sie kommen aus einer anderen Kultur». Dabei haben sie vor allem schlechtere Lebensbedingungen. So wären ein zu tiefes Einkommen oder das Wohnen in einer Kollektivunterkunft für uns alle ein Hindernis bei der sozialen Integration.

Sie sprechen darauf an, dass bisweilen die Anpassung an «kulturelle Eigenheiten» oder das Einhalten von «ungeschriebenen Gesetzen» gefordert wird. Sie sehen das kritisch?

PS: Hinter dem Begriff «kulturelle Eigenheiten» steckt oft die Vorstellung, dass Gesellschaft und somit Kultur etwas Einheitliches und Unveränderliches sind. Die Forschung zeigt aber, dass alle Kulturen Mischformen sind und sich stetig verändern. Gerade in der Schweiz mit ihren verschiedenen Landesteilen und Sprachregionen sollten wir das eigentlich wissen. Zahlreiche Menschen haben zudem nicht nur eine, sondern mehrere Zugehörigkeiten. Auch «ungeschriebene Gesetze» des Alltagslebens wie z.B. Begrüssungsrituale sollten nicht zum Massstab für soziale Integration gemacht werden. Hingegen ist es wichtig, Geflüchtete darüber zu informieren, was es bei Behördengängen zu beachten gilt, wie das Schulsystem funktioniert oder welche Treffpunkte und Versorgungsinfrastrukturen im Quartier vorhanden sind.

Welche Rolle spielen neben der Fachstelle Integration weitere staatliche Einrichtungen?

PS: Mitentscheidend sind neben der Fachstelle Integration und der Zivilgesellschaft die so genannten Regelstrukturen, also das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen. Ihre Mitarbeitenden sind nahe an den Lebenswelten der Menschen dran. Es ist wichtig, dass sie den Fokus auf Ressourcen und Bedürfnisse der Geflüchteten richten und diese bei ihren Integrationsbemühungen unterstützen. Auch in der vermehrten Zusammenarbeit über die Behördengrenzen hinweg sehe ich noch Potenzial.