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«Wir brauchen kontextspezifische Datengrundlagen, um effizienter planen zu können»
Denise Efionayi-Mäder ist Forscherin am Schweizerischen Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien der Universität Neuchâtel. Sie spricht über problematische Wissenslücken bei der gezielten Integration in urbanen und ländlichen Regionen.
Interview: Philipp Grünenfelder
Frau Efionayi-Mäder, Sie forschen seit vielen Jahren zu Migration und Integration. Gibt es in der Schweiz verlässliche Studien zu möglichen Unterschieden zwischen Stadt und Land?
Denise Efionayi-Mäder (DEM): Leider kaum. Wir wollten deshalb vor einigen Jahren selbst ein Nationalfondsprojekt dazu realisieren – es wurde vom Forschungsrat aber leider knapp nicht bewilligt. Dabei wäre eine fundierte Auseinandersetzung dringend nötig. Bislang stützen wir uns auf Praxiswissen, punktuelle Erkenntnisse oder Vergleiche mit Studien aus andern Ländern. Doch die Schweiz ist in Vielem eigen, föderal, mehrsprachig und kleinteilig strukturiert – wir brauchen kontextspezifische Datengrundlagen, um die Lage zu beurteilen und effizienter planen zu können.
Was macht das Thema Stadt/Land denn so relevant?
DEM: Integration findet nie im luftleeren Raum statt. Ob jemand in der Stadt oder auf dem Land lebt, macht einen Unterschied. Die räumliche Struktur prägt unsere sozialen Dynamiken enorm – auch die Integrationsprozesse. Während die Koordinationsstellen und professionellen Angebote überwiegend in den Zentren angesiedelt sind, finden wir in ländlichen Regionen weniger Integrationsstrukturen. Inklusion passiert dort stark über Einzelpersonen – über Lehrerinnen, Vereinsmitglieder oder Nachbarn. Dieses Engagement ist wichtig, aber auch fragil.
Inwiefern?
DEM: Es basiert zwar auf persönlichen und sehr engagierten Beziehungen, diese sind aber oft vom Zufall abhängig. Lebt ein Gemeindevortstand beispielsweise keine offene Haltung vor, fehlen im Ort tragfähige soziale Netzwerke, bremst das die Integration sogar aus.
Sie sprechen das zivilgesellschaftlichem Engagement an…
DEM: So wichtig es ist, darf es keine Gratisalternative zur professionellen Integrationsförderung sein. Eine pensionierte Landwirtin kann für den Spracherwerb von Geflüchteten beispielsweise unersetzliche Konversationshilfe leisten – aber einen Sprachkurs aufbauen und didaktisch leiten, das ist etwas anderes. Sehr wichtig ist, dass man beide Seiten gezielt koordiniert, unterstützt und nicht gegeneinander ausspielt. Das erfordert auch eine optimale Zusammenarbeit zwischen Integrationsfachstellen, Arbeitsämtern und der Sozialhilfe.
Wie sieht das in Städten und Agglomerationen aus?
DEM: Grundsätzlich gleich, wobei sowohl die freiwilligen als auch die professionellen, strukturellen Angebote hier natürlich viel umfangreicher sind. Eine zu starke Professionalisierung kann genauso kontraproduktiv sein wie eine bremsende Grundstimmung – Integration ist vor allem Beziehungsarbeit. Und während auf dem Land die Koordination der verschiedenen Player wegen der räumlichen Distanz zu kantonalen Fachstellen eine Herausforderung sein kann, ist sie es in urbanen Zentren bisweilen wegen der unübersichtlichen Anzahl Angebote und mangelnder Koordinationsbereitschaft.
In ländlichen Kantonen sehen wir teils höhere Erwerbsquoten bei Geflüchteten. Wie schätzen Sie den Zusammenhang von Wohnort und Arbeitsintegration ein?
DEM: Eine bessere Erwerbsquote kann hier unter anderem an persönlicheren Kontakten zwischen Arbeitgebenden, Arbeitnehmenden und Türöffnerinnen liegen (vgl. S. 6). Wen man kennt, dem begegnet man mit weniger Vorurteilen und springt eher mal über den eigenen Schatten. Aber auch diese Frage müsste man untersuchen. Statistiken allein sagen nicht alles. Falls es sich vor allem um Jobs ohne längerfristige Perspektiven und nicht um Zwischenstationen in einem professionell begleiteten Weg handelt, Stichwort Jobcoaching, ist das längerfristig wenig sinnvoll. Damit Integration nachhaltig gelingt, braucht es auch Zugang zu Aus- und Weiterbildungsangeboten – nicht nur den schnellen Einstiegserfolg.
Wer abgelegener lebt hat tendenziell weniger Zugang zu solchen Ressourcen.
DEM: Das stimmt. Wer vier Stunden für einen Sprachkurs reisen muss – vielleicht mit langen Arbeitstagen, Kindern und ohne Auto –, ist klar im Nachteil. Hier sollte man unbedingt die Mobilität fördern – etwa durch finanzielle ÖV-Beiträge oder organisierte Transportlösungen. Man darf nicht vergessen, dass gerade geflüchtete Menschen oft mit noch schlechteren Voraussetzungen starten als finanziell schlecht gestellte Einheimische – sprachlich, sozial, psychisch. Wer Integrationsförderung ernst nimmt, muss auch den Weg dorthin ebnen.
Mit welchen weiteren Massnahmen?
DEM: Es braucht gerade in ländlichen Regionen viel mehr Kita-Plätze und bessere Tagesstrukturen in den Schulen. Wenn solche fehlen, muss man sich nicht wundern, wenn Frauen wenig arbeiten oder keinen Sprachkurs besuchen.
Was bedeuten Ihre Einschätzungen für die Integrationsförderung in Graubünden?
DEM: Ich kann nicht explizit zu Graubünden Stellung beziehen, aber der Kanton steht sicher exemplarisch für die Stadt-Land-Herausforderungen. Er ist geprägt von hoher Dezentralität, sprachlicher Vielfalt und unterschiedlichen Gemeindestrukturen. Mit dieser Ausgangslage passende zivilgesellschaftliche und kommunale Angebote mitaufzubauen und vor allem zu koordinieren ist anspruchsvoll, das weiss die Fachstelle Integration, weil sie es täglich macht. Wissenschaftliche Grundlagen könnten allen dabei helfen, systematisch voneinander zu lernen. Der Jura von Graubünden, Graubünden vom Wallis etc.
Wobei wir bei der Ausgangsfrage sind. Was könnte die Forschung zur Arbeit der Fachstelle Integration und anderer Beteiligter beitragen?
DEM: Wir könnten die lokalen Erfahrungen systematisch auswerten, Unterschiede sichtbar machen und so evidenzbasierte Empfehlungen liefern. Zielführend wäre eine Kombination aus quantitativen Daten – etwa zu Erwerbsquoten, Bildung oder Spracherwerb – und qualitativen Erkenntnissen aus der Praxis. Man bedenke: eine gute Koordination spart langfristig Ressourcen.