Baumflechten haben eine Eigenschaft, die sie gegenüber anderen Lebewesen auszeichnet: Sie reagieren sehr empfindlich auf Schadstoffe in der Luft. Deshalb sind sie einfache, aber verlässliche Anzeiger für die Luftqualität.
Wo sie nur in geringer Zahl und Artenvielfalt auftreten, ist davon auszugehen, dass die Luftbelastung erhöht ist.
Die Luftgütekarte
Die Kartierung von Vorkommen und Häufigkeit der Flechten erlaubt zuverlässige Rückschlüsse auf die örtliche Luftqualität.
Mittels einer standardisierten Methode werden das Vorkommen und die Häufigkeit einzelner Flechtenarten erfasst und in einer so genannten Luftgütekarte dargestellt. Diese Karte zeigt ein Gesamtbild der Luftbelastung, die auf Menschen, Tiere und Pflanzen einwirkt.
Aufgrund der Weiterentwicklung der Methode der Flechtenkartierung sind heute nebst der Luftgesamtbelastung auch präzise Aussagen zur Belastung mit primären Luftschadstoffen (Stickstoffoxid, Feinstaub, Schwefeldioxid), Ammoniak und Ozon möglich, da schadstoffspezifische Flechten-Indikatoren zum Einsatz kommen.
Luftgütekarten des Bündner Rheintals, 2022: Die Karte links zeigt farblich differenziert die Luftgesamtbelastung 2022 über die Bioindikation mit Flechten für den Grossraum um die Stadt Chur; Orange = relativ grosse Luft-Gesamtbelastung, Gelb = mittlere Luft-Gesamtbelastung. Die Karte rechts zeigt farblich differenziert die Änderung der Luftgesamtbelastung 2022 im Vergleich zu 1986 ebenfalls für den Grossraum um die Stadt Chur: Verschlechterungen der Luftgesamtbelastung in Rosa-Tönen, Verbesserungen der Luftgesamtbelastung in Blau-Tönen. Quelle: Luftqualitätsuntersuchungen mit Flechten im Kanton Graubünden, vierte Erhebung, Kurzfassung Flechtenkartierung Bündner Rheintal (2022) und Misox (2023), März 2024.
Belastungsanteile einzelner Luftschadstoffe
Flechtenvielfalt und Flechtenwachstum stehen in Zusammenhang mit der Belastung durch Luftschadstoffe. Kann aus diesen Daten auch eine Aussage darüber gemacht werden, welcher Luftschadstoff einen grösseren Einfluss nimmt auf die Luftgesamtbelastung als andere Luftschadstoffe? Eine regressionsanalytische Zusatzauswertung der Belastungsanteile einzelner Schadstoffe an der Luftgesamtbelastung zeigt, dass es im Zeitraum von 1995 bis 2022 zu einer Änderung der Einflussnahme der Luftschadstoffe auf die Gesamtbelastung gekommen ist. Bei den Primärschadstoffen (Stickstoffoxid, Schwefeldioxid, Feinstaub) erzielten vielfältige Luftreinhaltemassnahmen (Partikelfilter, neuere Motortechnologie, verkehrsberuhigende und –entlastende Massnahmen u.a.m.) eine Entlastung. Der Anteil dieser Luftschadstoffe an der Luftgesamtbelastung nahm deutlich (für das Bündner Rheintal von 24 % auf 5 %) ab. Auch der Anteil an Ozon, welches aus den Primärschadstoffen (insbesondere aus Stickoxiden) als Sekundärprodukt indirekt gebildet wird, ging zurück (für das Bündner Rheintal von 2 % auf unter 1 %). In demselben Zeitraum nahm dahingegen der Anteil an Ammoniak von nicht messbar (1995) auf über 23 % (2022) zu. Ammoniak hat im Langzeitvergleich also an Bedeutung gewonnen, während die in den 1980er Jahren dominanten Luftschadstoffe dank wirksamer Massnahmen an Einfluss auf die Luftgesamtbelastung verloren haben. Ammoniak steht in Verbindung mit der Zunahme an Grossvieheinheiten, der geänderten Fütterungsmethoden (Kraftfutter) und mit dem Einsatz von AddBlue bei SAC-Katalysatoren, um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Die Entwicklung der Flechtenvielfalt im Rheintal und Misox
Die periodische Erhebung der Flechtenvielfalt im Rheintal, Misox und Domleschg zeigt seit 1986 den Erfolg der lufthygienischen Massnahmen: Heute ist die Luft in den Zentren von Chur und Landquart viel besser als vor 30 Jahren. Die Luftqualität zwischen den Ortschaften sowie entlang der Verkehrsachsen hat sich hingegen verschlechtert.
Raum Ems–Chur–Trimmis: Luftgütekarten für die Jahre 1986, 2011 und 2022. Der Vergleich der Karten zeigt, dass sich die Luftqualität in Chur verbessert, zwischen den Ortschaften jedoch verschlechtert hat. Quelle: Luftqualitätsuntersuchungen mit Flechten im Kanton Graubünden, vierte Erhebung, Kurzfassung Flechtenkartierung Bündner Rheintal (2022) und Misox (2023), März 2024.