Die Bündner Regierung und der Churer Bischof Wolfgang Haas haben nicht die
gleichen Vorstellungen über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. Dies geht aus
einem bezüglichen Briefwechsel hervor.
In der ersten Aprilhälfte hat Bischof Haas der Regierung in indirekter Beantwortung des "offenen
Briefs" der Verwaltungskommission der katholischen Landeskirche von Graubünden seine
Vorstellungen betreffend die Beziehungen zwischen Staat und Kirche dargelegt. Ausgehend von
der fehlenden Rechtsbeziehung zwischen dem Staat und der katholischen Kirche als solcher
steht im Mittelpunkt seiner Ausführungen der Vorschlag, das Zusammenwirken von Staat und
Kirche im Sinn der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils durch eine partnerschaftliche,
allenfalls völkervertragliche Abmachung unmittelbar zwischen dem Staat und dem Bistum zu
regeln.
Regierung lehnt Systemwechsel ab
Die Bündner Regierung nimmt zu diesen Ausführungen Stellung und legt die Gründe dar, warum sie
einen derart radikalen Systemwechsel aus staats- und kirchenpolitischen Überlegungen ablehnt.
Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat beruht in der Schweiz und insbesondere auch in
Graubünden auf einer historisch begründeten und organisch gewachsenen jahrhundertealten
Tradition. Die öffentlich-rechtliche Anerkennung der beiden christlichen Religionsgemeinschaften
durch den Staat hat wesentlich zum partnerschaftlichen Zusammenwirkung beigetragen. Die von
Bischof Haas angeregte Neuregelung der Beziehungen des Kantons Graubünden zur
katholischen Kirche beziehungsweise zum Bistum Chur würde diese historische Entwicklung
abrupt beenden und sowohl Landeskirche wie Kirchgemeinden ausschalten.
Umstrukturierung äusserst problematisch
Mit dem von Bischof Haas angeregten Systemwechsel würden unsere beiden hauptsächlichen
Religionsgemeinschaften ins Privatrecht versetzt (wie in den Kantonen Genf und Neuenburg).
Als unmittelbare Folge davon würden die Landeskirchen und ihre Kirchgemeinden das Recht
verlieren, Steuern zu erheben. Die sich ergebenden Schwierigkeiten für Staat und Kirche wären
nicht abzusehen. Im weiteren würden die Kirchen allenfalls das Privileg der Steuerfreiheit
verlieren. Die enormen Leistungen der Kirchgemeinden zugunsten der zahlreichen
kunsthistorisch wertvollen Kirchen und Pfarrhäuser wären kaum mehr möglich, wenn die
steuerlichen Begünstigungen wegfielen. Ohne diesen Einsatz wären die von den Kirchgemeinden
erhaltenen und dotierten kirchlichen Ortsstiftungen nicht lebensfähig.
Aber auch der Staat würde durch den Systemwechsel neuen finanziellen Lasten ausgesetzt, weil
er zahlreiche Aufgaben, die bislang die Kirchgemeinden erfüllen, selber übernehmen müsste. Zu
erwähnen sind in diesem Zusammenhang die Bereiche Erziehung, Bildung, Fürsorge,
Armenpflege, Kulturpflege etc. Als Folge des Systemwechsels dürften bei den natürlichen
Personen ab sofort keine Kirchensteuern mehr erhoben werden. Es müsste also eine neue
Rechtsgrundlage für das Beschaffen von Geldmitteln für die Kirchen durch den Staat geschaffen
werden, um diese Aufgaben weiterhin erfüllen zu können.
Ausgewogenes Verhältnis würde gestört
Die katholische Landeskirche von Graubünden ist der evangelisch-reformierten Landeskirche von
Graubünden nachgebildet. Dadurch entwickelte sich ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem
Kanton und den beiden öffentlich-rechtlich anerkannten Landeskirchen wie auch unter den beiden
Landeskirchen. Der von Bischof Haas vorgeschlagene Systemwechsel, welcher faktisch die
Auflösung der Staatskirchen enthält, hätte auch entsprechende Auswirkungen auf die
evangelisch-reformierte Kirche von Graubünden. Solche stehen aber weder zur Diskussion noch
wären sie erwünscht.
Systemwechsel wäre Ende der Volkskirche
Die Annahme der Vorschläge von Bischof Haas für einen Systemwechsel wäre mit dermassen
tiefgreifenden Veränderungen verbunden, dass sie letztlich das Ende der Volkskirche bedeuten
würde. Die heutige Struktur der Kirche, die vom Volk akzeptiert ist und sich aufgrund der
historischen Entwicklung nach demokratischem Muster ergeben hat, könnte nicht mehr
aufrechterhalten werden. Ein teilweiser oder vollständiger Abbau der bestehenden
staatskirchenrechtlichen Strukturen würde der historischen Entwicklung zu wenig Rechnung tragen,
wäre sozial nachteilig und überdies kirchen- sowie staatspolitisch kaum durchführbar.
Auskunftsperson:
Regierungsrat Joachim Caluori, Tel. 081-257 27 01
Jahr: 1998