Die Regierung an die Einwohnenden des Kantons Graubünden
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger
Vor 500 Jahren prägten kriegerische Ereignisse Land und Volk
Graubündens. Als blutiges Geschehnis ist vor allem die Calvenschlacht in
die Geschichte eingegangen. Dieses Jahr haben in Graubünden und im
angrenzenden Ausland verschiedene Anlässe stattgefunden, die sich mit
den damaligen Vorkommnissen auseinander setzten. Bezeichnend für diese
Anlässe ist, dass sie sich weniger den kriegerischen Aspekten der
Vergangenheit als vielmehr der Frage widmen, welchen Sinn kann ein
solches "Schlachtjubiläum" in der heutigen Zeit haben.
Der Sinn des Gedenkens selbst an kriegerische Ereignisse kann
vielfältig sein. Der Rückblick kann Gefühle des Dankes dafür auslösen,
dass unser Land, unser Kanton und unsere unmittelbaren Nachbarn im
Ausland heute in Frieden miteinander leben dürfen. Er schafft aber auch
die Möglichkeit, die heute von gutem Einvernehmen und gegenseitigem
Respekt geprägten Beziehungen mit den Nachbarn zu intensivieren in der
Absicht, noch mehr voneinander zu erfahren und diese Erfahrungen für die
Lösung von Problemen über bestehende Grenzen hinweg zu nutzen. Denkbar
ist sodann die trotzige Reaktion, das Gleiches oder Ähnliches sich heute
und in der Zukunft nicht mehr wiederholen darf.
Sie werden vielleicht sagen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die
erwähnten möglichen Sinngehalte eines Rückblicks auf kriegerische
Ereignisse stellen eine Selbstverständlichkeit dar. Wir geniessen heute
ein Leben in Frieden und Wohlstand, das Ängste vor Krieg und Zerstörung
völlig in den Hintergrund treten lässt. Die aktuelle Situation in Europa
und auf der Welt lehrt uns leider, dass dem nicht so ist. Wohl sind wir
weniger einer direkten Bedrohung ausgesetzt. Wir alle sind aber in
diesem Jahr Zeugen einer menschlichen Tragödie, die sich nur unweit von
unserem Land in Serbien, im Kosovo und teilweise in den angrenzenden
Gebieten abspielt. Zeugen menschlichen Leids zu sein heisst auch
unmittelbar beteiligt zu sein. Das Gebot der christlichen Nächstenliebe
verlangt, dass wir alle unsere Möglichkeiten und Kräfte dafür einsetzen,
den an Leib und Leben Bedrohten, den Verfolgten, Gequälten, Verletzten,
den in ihrer physischen und psychischen Existenz Gefährdeten zu helfen.
Hilfe braucht es in zweierlei Hinsicht: Zunächst braucht es
humanitäre Hilfe, die akute Not lindert, die Leben und Überleben
ermöglicht, die Getrennte zusammenführt und Perspektiven für eine
Rückkehr in die Heimat eröffnet. Es braucht aber auch die klare
Manifestation, dass sich Gleiches oder Ähnliches weder in Serbien und im
Kosovo, noch im kurdischen Bergland, noch sonst wo in Europa oder auf
einem andern Kontinent wiederholt.
Es wäre vermessen, uns allein als kleinem Land und Volk die Kraft
und den Einfluss zuzutrauen, eine solche Wende zum Besseren
herbeizuführen. Das manchmal durchaus angebrachte Gefühl der Ohnmacht
gegenüber mit kriegerischen Mitteln ausgetragenen Konflikten darf uns
aber nicht dazu verleiten, Krieg, Zerstörung und menschliches Leid als
Bestandteil unseres Alltags anzunehmen. Nur wenn wir in Besinnung auf
unseren Glauben, auf unsere christlichen Grundwerte und auf unsere
humanitäre Tradition auch alles Mögliche unternehmen, um zur Vermeidung
von Konflikten beizutragen, handeln wir konsequent und aufrichtig. Diese
Feststellung gilt für Regierungen, internationale Institutionen,
Personen und Gruppen mit hohem Ansehen in der Öffentlichkeit und die
einfachen Bürgerinnen und Bürger gleichermassen. Jede und jeder hat in
seiner Funktion die Möglichkeit, durch gelebte Toleranz und
Nächstenliebe, durch Verständnis für andere Kulturen und Bräuche, durch
praktizierte Hilfsbereitschaft im täglichen Leben jene Saat zu setzen,
die dereinst vielleicht nicht in einer völlig konfliktfreien, aber in
einer deutlich konfliktärmeren und weniger gewaltbereiten
Volksgemeinschaft aufgehen wird.
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, vergessen wir angesichts der
internationalen Konflikte nicht jene Mitmenschen im eigenen Land, die -
aus welchen Gründen auch immer - eine schwere Sorgenlast zu tragen
haben. Versuchen wir, auch ihnen zu helfen, indem wir das praktizieren,
was wir uns für die grosse, weite Welt erhoffen: Eine von gegenseitigem
Respekt und echter Fürsorge getragene Gemeinschaft.
Ihnen allen wünschen wir Glück und Gottes Segen. Möge der
Allmächtige seine schützende Hand über unsere Mitmenschen und uns
halten.
Chur, im September 1999
Namens der Regierung
Der Präsident:
Klaus Huber
Der Kanzleidirektor:
Dr. Claudio Riesen
Gremium: Regierung Graubünden
Quelle: dt Regierung