Hans Rutishauser, Kantonaler Denkmalpfleger
Am Sonntag, den 14. Juli um 10.00 Uhr wird in der Kapelle von Silgin
die wiedergewonnene Orgel in einer Messe in Betrieb genommen. Am
Sonntagnachmittag um 14.00 Uhr wird der Organist Giusep Tschuor aus
Sagogn das Instrument in einem Konzert vorstellen.
Vor drei Jahren ist die Kapelle St. Sebastian (Sogn Bistgaun) in
Lumbrein Silgin nach einer umfassenden Konservierung und Restaurierung
neu geweiht worden. Die 1643 gebaute Kapelle ist geziert mit Gewölbe-,
Wand-, Holzdecken- und Fassadenmalereien des 17. und 18. Jahrhunderts
sowie einem spätbarocken Altarretabel mit hochbarockem Altarbild.
Ausser diesem reichen künstlerischen Schmuck im und am Kapellenbau
bot der Kirchen- Dachboden eine überraschende Fülle wertvoller Bauteile
und Ausstattungsstücke, die Architekt Bruno Indergand entdeckte und
wiederverwendete: Die mit barockem Flachschnitt gezierte
Doppelflügeltüre des Eingangsportals hatte man bei der Renovation im
Jahr 1928 ebenso im Dachboden verwahrt, wie die nachgotischen
Masswerk-Fensterrahmen aus Lärchenholz.
Glanzstück dieser "Estrichfunde" waren jedoch die Bestandteile einer
Sekretär-Orgel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Bis auf das gelochte
Prospektbrett war das Orgelgehäuse weitgehend noch vorhanden. Zudem
fanden sich bei Bewohnern von Silgin und in den umliegenden Heuställen
noch fünf originale Holzpfeifen, einige Tasten der Klaviatur und
erfreulicherweise auch die Windlade. Dieses mit Löchern, Windkanälen und
Ventilen versehene Brett dient der Windzufuhr zu den einzelnen Pfeifen.
Anhand der Windlade lässt sich die Disposition einer Orgel, d.h. die
Pfeifenzahl und die Pfeifengrösse erschliessen. Ohne dieses
wiedergefundene "Herzstück" der alten Orgel wäre eine Restaurierung und
Rekonstruktion der Orgel sehr unsicher und daher fragwürdig gewesen.
Anhand der wiedergefundenen Bestandteile gelang es Orgelbauer Arno
Caluori, Says und seiner Mitarbeiterin Riccarda Müller die Orgel zu
rekonstruieren. Wichtig waren bei dieser Arbeit die Kenntnisse, welche
der Orgelbauer bei der Restaurierung der verwandten Orgeln von Zarcuns
(Kapelle Maria zum Schnee) und im Museum Regiunal Surselva in Ilanz
gewonnen hatte. Die Konstruktionsmerkmale der Orgel von Silgin bieten
Hinweise, dass es sich auch um ein Werk des Orgelbauers Gion Flurin
Coray (1800-1872) aus Laax handelt. Coray hat nachweislich nur ein
Instrument signiert, nämlich jenes von Zarcuns: "Gion Florin Coray,
Fabricatur d'orglas de Lax 1856".
Die übrigen nicht signierten acht Orgeln verwandter Bauweise lassen
sich anhand der orgelbautechnischen Handschrift mit grosser
Wahrscheinlichkeit ebenfalls Gion Flurin Coray zu weisen. Noch vor acht
Jahren schrieb der Orgelinventarisator Graubündens, Willi Lippuner, in
seinem Buch "Orgellandschaft Graubünden": "Der aus Laax stammende Coray
ist meist nur als Orgelreparateur bekannt, nicht als Orgelbauer. Ob er
1856 diese Orgel (von Zarcuns) wirklich erbaut oder nur repariert hat,
kann heute noch nicht mit Sicherheit entschieden werden."
Heute nach der Rekonstruktion und Restaurierung der Orgel von Silgin
darf man Orgelbauer Arno Caluori glauben, dass wohl alle neun Orgeln aus
der Laaxer Werkstatt von Gion Flurin Coray stammen. Arno Caluori
schreibt in seinem Restaurierungsbericht: "Alle Orgeln von Coray sind
sehr klein, bunt bemalt und weisen ungewöhnliche technische Details auf.
Die Bauweise seiner Instrumente zeigt deutlich, dass Coray nicht ein
gelernter und erfahrener Orgelbauer war. Wahrscheinlich wurde er von
älteren Orgeln in seiner Heimat inspiriert, vielleicht hat er bei einem
zünftigen Orgelbauer ausgeholfen. Als tüchtiger Holzhandwerker ahmte er
das Gesehene nach, als origineller Tüftler löste er die auftretenden
Probleme auf seine Art und brachte es so auf eine erstaunliche
Meisterschaft in seinem Beruf."
Es ist bezeichnend, dass technisch begabte und von mechanischen
Geräten begeisterte Tüftler nicht selten in wald- und holzreichen
Regionen tätig waren. Hier bestand eine bewährte
Holzhandwerker-Tradition und zugleich zwangen die kargen
wirtschaftlichen Verhältnisse zu Nebenverdiensten, die den Erfindergeist
anspornten.
Für unseren Kanton bieten die im Davoser Sertigtal hergestellten
Holzräderuhren eindrückliche Beispiele mechanischer Handwerkskunst. Seit
dem 17. Jahrhundert werden solche fast vollständig aus Holz gefertigt -
nach dem Vorbild gotischer Eisenuhren süddeutsch-schweizerischer Städte.
Im Schwarzwald und im Jura entstanden ebenfalls im 17. Jahrhundert erste
Holzräderuhren. Von der mit zwei Kleinstblasebälgen und Flöten tönenden
Schwarzwälder Kuckucksuhr zur Flötenuhr und schliesslich zur Dreh-,
Jahrmarkts- und Karusellorgel haben diese Bergler, Wäldler und Tüftler
vielerlei Holzinstrumente mit Drehwalzen, Holzrädern und Blasebälgen
ersonnen und zu geheimnisvollem Klingen gebracht.
Ähnliche Sonderlinge und Tüftler waren wohl auch die Orgelbauer im
Alpen- und Voralpenraum, wie die Toggenburger Wendelin (1720 bis 1790)
und Joseph Looser (1749 bis 1822) sowie Johann Heinrich Giezendammer
(1746 Todesjahr unbekannt) und die Bündner Georg Hammer aus Schiers
(1782 bis 1852) und eben Gion Flurin Coray aus Laax.
Die Wiederentdeckung der Orgel im Kapellenestrich von Silgin war
eine frohe Überraschung. Dass es schliesslich gelungen ist, mit
Durchhaltewillen, Sammeleifer, Handwerkskunst und zahlreichen Spenden in
bloss drei Jahren diese arg beschädigte und fast verlorene Instrument
aus der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder zum Klingen zu bringen, ist
schon ein kleines Wunder. Die Mitglieder der Orgelbaukommission Augustin
Tenz und Curdin Casaulta, der Orgelbauer Arno Caluori und die
Orgelbauerin Riccarda Müller, die Restauratorin Brigit Bütikofer, der
Orgelexperte Willi Lippuner aber vor allem der rührige Projektleiter,
Architekt Bruno Indergand, haben sich um dieses einmalige Instrument
verdient gemacht. Ihnen sei herzlich gedankt wie auch den zahlreichen
Spenderinnen und Spendern, ohne die eine Restaurierung und
Rekonstruktion der Sekretärorgel von Silgin nicht möglich gewesen wäre.
Gremium: Kantonale Denkmalpflege Graubünden
Quelle: dt Kantonale Denkmalpflege Graubünden