DIE REGIERUNG AN DIE EINWOHNERINNEN UND EINWOHNER DES KANTONS GRAUBÜNDEN
Hochgeachtete Mitbürgerinnen und Mitbürger
Liebe Bündnerinnen und Bündner
Liebe Gäste im Kanton Graubünden
Die letzten knapp zwei Jahre im Zeichen der COVID-Pandemie haben
niemanden unberührt gelassen, und dies in allen Ländern und Regionen auf
der ganzen Erde. Not und Zorn, Einsamkeit und Unverständnis, Unsicherheit
und Ungeduld, Erwartungen und Trauer, Existenzfragen und übergrosse
Arbeitsbelastung. Dies und einiges mehr haben diese jüngste Zeit geprägt.
Wer zu Beginn der COVID-Pandemie dachte und hoffte, sie werde sich
letztlich nicht so aufwühlend darstellen oder zumindest rasch wieder verziehen,
sieht sich heute eines Besseren belehrt. Eine Belastungsprobe ausserhalb
jeglicher Norm liegt hinter uns, aber sie ist bei Lichte besehen noch
nicht ausgestanden. Niemand von uns weiss, wie deren Entwicklung für die
Volksgesundheit längerfristig aussehen wird und welche Folgen und Spuren
sie auch für uns als Gesellschaft und für unsere Arbeitswelt und somit für
unser soziales und wirtschaftliches Auskommen in der näheren und ferneren
Zukunft hinterlässt. Herausforderungen verschwinden nur zum Teil, andere
werden bleiben oder entstehen neu. Dass – auch in der heutigen modernen
Zeit – nicht alles vorhersehbar und regelbar ist, wird uns derzeit deutlich vor
Augen geführt.
Wir sind uns solche Erkenntnisse und Einschätzungen, dominiert von
Ungewissheiten und gewisser Ohnmacht, nicht gewohnt. In aller Regel ist
unser persönliches Handeln ebenso wie jenes innerhalb der Gemeinschaft
und – erst recht – jenes des Staates ein sorgfältig geplantes, umsichtiges
Handeln. Wir wollen überlegt und koordiniert vorgehen, wir streben nach
Vorhersehbarkeit, Vertrauen, Rechtssicherheit und – letztlich – Sicherheit.
Im Staat garantiert dies ein geordneter, uns bekannter demokratiepolitischer
Ablauf mit geregelten Aufgaben, Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten.
Und nicht zuletzt mit einer obersten Kontrolle durch ein Gericht oder einen
Entscheid des Volks.
Und auf einmal erschien Vieles – ja fast alles – anders. Ganz grundlegend
neue Aufgaben stellten sich – für einen selber zum Beispiel, wenn die Kinder
nicht mehr zur Schule gehen oder man Homeoffice sicherstellen muss,
aber auch im Staat mit der Pandemie und Wirtschaftshilfen. Ganz grundlegend
neue Zuständigkeiten entwickelten sich – zum Beispiel für einen selber,
wenn man den Kindern die Freiheit für Besuche bei ihren Grosseltern
nehmen muss, aber auch im Staat, weil demokratische Prozesse gestützt auf
Notrecht wegen Dringlichkeit und Bedeutung anders geregelt sind. Ganz
grundlegend neue Verantwortlichkeiten entstehen – zum Beispiel für einen
selber, wenn man eigenverantwortlich sich an neue Regeln wie die Abstandsvorschriften
oder das Händewaschen halten muss, aber auch für den Staat,
wenn er tief in die persönlichen Freiheiten und die Wirtschaftsfreiheit der
Bürgerinnen und Bürger eingreifen muss.
Oder weniger analytisch: Das alles hat uns sehr belastet, besonders bezüglich
des Vertrauens zwischen der Bevölkerung und den Institutionen
unseres Kantons, dem Grossen Rat, der Regierung und der Verwaltung. Ist
das, was getan oder nicht getan wird oder worden ist, wirklich richtig so?
Sind Fehleinschätzungen und offen gelassene Unsicherheiten – insbesondere
von Seiten des Staats, von der Regierung, der Verwaltung – überhaupt vertretbar?
Wie gross ist die Marge für Toleranz, für eine Kultur im Umgang
mit einer Krise?
Ohne ein gesundes Polster an Grundvertrauen ist die Gestaltung einer
Gemeinschaft nicht möglich. Dies trifft jede und jeden Einzelnen von uns,
die oder der dazu einen Beitrag leisten kann, umso mehr aber auch die Verantwortungsträgerinnen
und Verantwortungsträger in einem Staat, in der
Gesellschaft und seinen verschiedenen Ausgestaltungen in den Familien
und Vereinen oder in einem Unternehmen.
Die getroffenen und noch zu treffenden Massnahmen können ihr Ziel
allerdings nur erreichen, wenn sie von allen mitgetragen werden. Im Staat
auch von der breiten Bevölkerung, in der Familie auch von den Angehörigen,
in der Schule auch von den Kindern und deren Eltern, im Unternehmen
auch von deren Angestellten. Dabei kommt wieder das Vertrauen ins
Spiel. Kein blindes Vertrauen, aber ein kritisches Begleiten ist geboten mit
dem Ziel, damit die Basis für ein gesundes allseitiges Grundvertrauen zu legen.
Ein Vertrauen darauf, dass das Handeln der Verantwortlichen in Staat,
Gesellschaft und Wirtschaft einen gangbaren Weg sucht und gehen will.
Ein Vertrauen darauf, dass Änderungen am so lieb gewordenen Gewohnten
manchmal erforderlich sind. Ein Vertrauen darauf, dass die Stimmen der
Bevölkerung im Staat, der Angehörigen in der Familie und der Angestellten
im Unternehmen gehört und ernst genommen werden.
In anspruchsvollen Zeiten wie den aktuellen ist ein sich Vorwärtstasten
vielfach die weiseste, aber auch die einzige wirklich sinnvolle Möglichkeit.
Und das geht nur mit einem gewachsenen und gut verankerten Sinn für die
Gemeinschaft und für alle, die der Gemeinschaft angehören.
Der Eidgenössische Dank-, Buss- und Bettag gibt uns Gelegenheit, dieses
Vertrauen zu bedenken und damit die Grundlage unseres Zusammenlebens
bewusst wahrzunehmen und dafür dankbar zu sein.
Namens der Regierung
Der Präsident: Dr. Mario Cavigelli
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin
Beilage:
Bettagsmandat 2021