An die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Graubünden
Liebe Bündnerinnen und Bündner
Liebe Gäste im Kanton Graubünden
Vor 160 Jahren, also vor etwas mehr als fünf Generationen, im Jahr 1863, verfasste der damals als Zürcher Staatsschreiber amtierende Gottfried Keller folgende Einleitung zum Bettagsmandat: «Mitbürger! Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken. Möge der Tag ernster Sammlung nach der heissen Arbeit des Sommers, wie nach dem Geräusche der nationalen Feste unserm gesamten Volke willkommen sein, als einem Volke, welches weder über der Arbeit noch über der Freude die Übung geistiger Wachsamkeit aus den Augen setzt.»
Welche Wege unser Geist in der Zeitspanne von fünf Generationen gegangen ist! Und welchen Wandel unsere Gesellschaft in dieser Zeit durchlebt hat! Kellers Sprache spricht davon Bände. Die Mitbürger sind heute Mitbürger und Mitbürgerinnen, je nach Schreibweise auch Mitbürger*innen. Mit eingerechnet sind dabei auch die gut zwanzig Prozent der Schweizer Bevölkerung, die gar keine Bürgerrechte haben, weil sie keinen Schweizer Pass besitzen. Das von Keller benutzte «vaterländisch» wird heute allenfalls noch als Synonym für «heimatlich» verstanden, ist aber nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert, dem Ende der Sowjetunion und insbesondere angesichts von aktueller Kriegspropaganda auch stark belastet. Zumal sich heute ebenso viele Menschen ihrem «Mutterland» wie ihrem «Vaterland» verbunden fühlen. Und mit über 110 Millionen Menschen weltweit, die sich auf der Flucht befinden – so viele wie noch nie in der Geschichte -, erhält der Begriff Heimat ohnehin für Viele eine neue Bedeutung.
Halten wir uns nochmals kurz vor Augen, wie es im 19. Jahrhundert aussah, als Keller den Text verfasste, um einen Vergleich mit der Jetztzeit machen zu können: Während der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert waren Frauen und Kinder in den Schweizer Textil-Fabriken gefragte Arbeitskräfte. In manchen Betrieben arbeiteten Minderjährige bis zu 18 Stunden pro Tag. Die Arbeit war anstrengend, der Lohn bescheiden. Dann, am 21. Oktober 1877, nahm das Schweizer Stimmvolk – das sogenannte Fabrikgesetz an. Erstmals erliess der Staat auf Bundesebene Richtlinien zum Schutz der Arbeiterinnen und Arbeiter. Es verbesserten sich in den Fabriken Hygiene und Sicherheit. Die Auszahlung der Löhne wurde geregelt und es wurde auch festgeschrieben, welche Bussen bei Verspätungen oder mangelhafter Arbeit verhängt werden konnten. Die Arbeitszeit eines Standardarbeitstages wurde auf elf Stunden begrenzt, die Nacht- und Sonntagsarbeit geregelt und die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren verboten. Frauen durften während sechs Wochen nach der Niederkunft nicht arbeiten.
2023 steht die Arbeitswelt in der Schweiz gesamthaft vor ganz anderen Herausforderungen: Teilzeitarbeit ist quer durch alle Branchen ein immer beliebteres Arbeitsmodell. Der Fachkräftemangel prägt sowohl die Entwicklung von Privatwirtschaft als auch der öffentlichen Verwaltung. Und lebenslange Aus- und Weiterbildungen haben in der Berufswelt einen fixen Stellenwert erhalten. Und gerade Frauen sind wieder dringend gesucht in der Arbeitswelt. Was geblieben ist: Frauen sind es, die in der Gesellschaft heute immer noch den Grossteil von (unbezahlter) Care-Arbeit leisten.
Aber zurück zu Gottfried Keller: Er spricht in seiner Rede von der heissen Arbeit des Sommers. Bei der Arbeit im Sommer mag es für viele Erntehelferinnen und Helfer der Schweiz von damals tatsächlich «heiss» gewesen sein. In der Landwirtschaft setzten im 19. Jahrhundert zwar erste Mechanisierungsschritte ein. Kein Vergleich zu heute, wo praktisch in allen Gebieten und Hanglagen mit Maschinen gearbeitet werden kann! Im 19. Jahrhundert stand die Handarbeit in der Landwirtschaft vielerorts und gerade im Berggebiet an erster Stelle. Aber auch heute ist die Handarbeit von Erntehelfer und Erntehelferinnen auch bei uns immer noch Realität. Steckt sie doch in all den Nahrungsmitteln, die bis vor einigen Jahrzehnten im Lebensmittelhandel mitunter noch zu Luxusgütern zählten: In Beeren und Früchten zum Beispiel.
Der in der Rede von 1863 erwähnte heisse Sommer verweist aber noch auf ein ganz anderes Thema: Just in jenem Jahr nahmen gemäss dem historischen Lexikon der Schweiz nämlich 88 Stationen des ersten nationalen meteorologischen Messnetzes ihren Betrieb auf. Entsprechend verfügte man in den Folgejahren über erste systematische Messdaten. Heute greift Meteo-Schweiz auf ein modernes Boden-Messnetz mit rund 260 automatischen Messstationen im ganzen Land zurück, die alle zehn Minuten Daten zu Klima und Wetter in der Schweiz liefern. Die Wetter- und Klimaforschung kann heute über eine unvergleichbar grosse Datenlage verfügen und ist sich einig: Das Verhalten des Menschen, sein Umgang mit den Ressourcen dieser Welt hat einen Einfluss auf das System.
Was aber bringen uns nun solche historische Vergleiche? Zumal der Blick auf die Geschichte ja auch immer eine Frage des Standpunktes ist und erst ein umfassender historischer Diskurs ein differenziertes Bild entstehen lässt?
In der Rückschau können wir Wandel und Fortschritt erkennen. Sei dieser Fortschritt sozialer, wirtschaftlicher, technischer oder gesellschaftlicher Art. Das Bewusstsein für Geschichte wiederum verankert uns im Hier und Jetzt. Und das Bewusstsein für Fortschritt öffnet uns angesichts der unterschiedlichen Tempi, mit welchen über den Globus hinweg Fortschritte erzielt werden, den Horizont und lehrt uns im besten Falle Demut.
Fortschritt aber entfaltet seine ganze Wirksamkeit nur, wenn er gemeinsam als Gesellschaft erfolgt. Und nur, wenn in Solidarität mit all jenen fortgeschritten wird, die nicht das Privileg haben, hier geboren zu sein oder hier zu leben. Fortschritt braucht ein bedachtes Vorgehen und die Inklusion aller. Natürlich, es ziehen immer einige Voraus. Sie sind für die Erzählung der Geschichte wichtig. Genauso wichtig sind aber diejenigen, die hinterherkommen.
«Wieder naht der vaterländische Bettag, an welchem alle Eidgenossen vor Gott, ihren alleinigen Herrn, treten, um ihre Gewissen vor ihm, dem Allwissenden, zu prüfen, die Gebote des Unendlichen zu vernehmen und ihm für seine unwandelbare Güte zu danken.», schrieb Keller vor 160 Jahren. Ob die hehren Ziele des Bettages, wie sie Keller schildert, heute noch Gültigkeit haben, liegt in der Beurteilung jedes und jeder Einzelnen. Dass wir aber alle zumindest einmal im Jahr innehalten und «unser Gewissen prüfen», sprich überlegen, wie wir im persönlichen Umfeld und in der Gesellschaft unterwegs sind und wie unser Beitrag an die Gemeinschaft aussieht, ist nach wie vor erwünscht, wenn nicht gar gefordert.
Chur, im September 2023
Namens der Regierung
Der Präsident: Peter Peyer
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin