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An die Einwohnerinnen und Einwohner des Kantons Graubünden

Geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger
Liebe Bündnerinnen und Bündner
Liebe Gäste im Kanton Graubünden

Wir leben in aufgewühlten Zeiten. Wir sind umgeben von Krisen, die einmal mehr, einmal weniger auch in unserem Kanton zu spüren sind. Dazu kommen überall auf der Welt immer mehr Kräfte, die mit extremistischen Parolen und Verschwörungstheorien das Vertrauen in den Rechtsstaat, die Politik und die Demokratie erschüttern.

Aufgewühlte Zeiten waren es auch, als vor 500 Jahren der Bundsbrief von Ilanz den Grundstein für den Freistaat der Drei Bünde legte, aus dem später der Kanton Graubünden wurde. Dieses Bündnis versprach Stärke und Schutz und ein einheitliches Auftreten gegenüber den benachbarten monarchischen Herrschaften. Darin manifestierte sich aber auch der Wille zu Eigenverantwortung und Unabhängigkeit, der die Menschen damals erfüllte. Dieser äusserte sich im alpinen Gebiet der Drei Bünde auch darin, dass die Gemeinden schon früh eine starke Stellung innerhalb der feudalen Strukturen erringen konnten.

Ungefähr zur gleichen Zeit kam mit der anbrechenden Reformation auch Bewegung in die fest gefügte Hierarchie der Kirche. Dabei ging es vorerst um unterschiedliche Auslegungen der christlichen Lehre. Mit den Übersetzungen der Bibel in die Volkssprachen war diese erstmals für alle zugänglich. Die Menschen begannen, selber über die biblischen Inhalte nachzudenken und ihre eigenen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Rolle und Funktion der Kirche wurde infrage gestellt. In Graubünden wurde zeitgleich mit dem Bundsbrief die weltliche Macht des Bischofs stark beschnitten und die Gemeinden erhielten das Recht, ihren Pfarrer zu wählen. Das heisst: Sie konnten selber entscheiden, ob sie «altgläubig» bleiben oder «neugläubig» werden wollten.

So gelang es in der Gründungszeit des Freistaates der Drei Bünde, unterschiedliche religiöse Überzeugungen zu tolerieren und zuzulassen. Paritätisch existierten katholische Gemeinden neben reformierten, vielerorts war sogar eine gemeinsame Nutzung von Kirchen möglich. Fast 100 Jahre lang dauerte diese grösstenteils friedliche Zeit, dann erfassten die Konflikte zwischen den grossen Europäischen Mächten auch den Freistaat. Danach aber funktionierte Graubünden bis zum Ende des Freistaats weiterhin paritätisch, mit den beiden Konfessionen.

Demokratisierung und Reformation wären kaum möglich gewesen ohne eine Erfindung, die damals die Welt entscheidend veränderte: Die Erfindung des Buchdrucks.

Gedruckte und tausendfach vervielfältigte Flugblätter und Bücher, später Zeitungen und Zeitschriften machten Bildung und Kenntnisse für breite Kreise zugänglich, was wiederum zur Basis für die Demokratie als Staatsform der Zukunft wurde. Mündige Bürger sind Bürger, die mitreden können. Das setzt voraus, dass sie informiert sind. Dass wir lesen, schreiben und rechnen können, ist heute selbstverständlich, für die Menschen der frühen Neuzeit war es eine neue, grosse Errungenschaft.

Wohlgemerkt waren sowohl Bildung als auch Demokratie lange fast ausschliesslich Männersache. Bis es Standard wurde, dass auch Mädchen und Frauen zur Schule durften, vergingen noch mehr als 300 Jahre. Und weitere 150 Jahre vergingen bis 1971, als die Bündner und Schweizer Männer für das Frauenstimmrecht stimmten und den Frauen endlich erlaubten, auch über politische Themen mitzuentscheiden.

Wie eingangs erwähnt: Auch heute leben wir wieder in aufgewühlten Zeiten. Terror, Kriege, Klima, Fluchtbewegungen, Hunger, Inflation – Krisen türmen sich wie drohende Gewitterwolken auf. Zu all diesen Themen kursieren viele verschiedene Erzählungen und Interpretationen. Gewissheiten geraten ins Rutschen. Auch das Vertrauen in Demokratie, Medien, Politik und Rechtsstaatlichkeit wird immer wieder auf harte Proben gestellt.

Diese Entwicklungen stehen im Zusammenhang mit einer Erfindung, deren Bedeutung nicht weniger umwälzend ist als seinerzeit die Erfindung des Buchdruckes: das Web 2.0, das interaktive Internet. Mit ihm kamen Geräte wie Smartphones und Tablets, die aus unserem Alltag kaum mehr wegzudenken sind. Während damals im Prinzip alle Menschen zu Empfängern von Informationen und Wissen wurden, hat das interaktive Internet uns alle zu Sendern gemacht. Jeder und jede von uns kann theoretisch ein Millionenpublikum erreichen. Und die öffentliche Meinung mit beeinflussen. Influencerinnen werden aus dem Kinderzimmer heraus zu Stars, ohne die Hilfe von Verlagen und klassischen Medien.

Seit wir erlebt haben, wie sehr die Pandemie unsere Gesellschaft polarisieren konnte, wissen wir, wie gegensätzlich man die Ereignisse um uns herum beschreiben kann. Zu fast allem kann es gegenteilige Ansichten geben, selbst zu Tatsachen, die wir für evident halten. Und wenn es kompliziert wird, greift man gerne zu Vereinfachungen und Feindbildern. Es ist leichter, zu erklären, wer an diesem oder jenem Problem schuld sein soll, als komplexe Lösungen zu erläutern. Ausgewogene Darstellungen, die sich um Sachlichkeit bemühen, haben es manchmal schwer.

Im 500. Jahr seit der Gründung des Freistaates der Drei Bünde möchten wir an die weitsichtige Toleranz erinnern, welche die freistaatliche Zeit prägte. Statt sich in Glaubenskämpfen aufzureiben, akzeptierte man ein Nebeneinander der Konfessionen. Der dafür nötige Dialog setzte gegenseitigen Respekt und einen minimalen Konsens über gemeinsame Werte voraus.

Heute ist wieder ähnlicher Pioniergeist gefordert. Die gegenwärtige hohe Anzahl und Vielfalt der Stimmen im öffentlichen Raum verleiht Debatten zwar eine neue Lebendigkeit. Doch sie birgt auch eine Gefahr: Wir sollten vor lauter Senden nicht vergessen, einander zuzuhören. Wenn alle sich nur noch in ihren eigenen Blasen bewegen, werden wir uns eines Tages nicht mehr verstehen!

Am Anfang war das Wort. Aus dem Wort entsteht die Welt. Wer wir sind, definieren wir über Erzählungen und Geschichten. In ihnen ist alles enthalten, was wir über uns, unsere Region, unsere Gesellschaft und die Welt um uns herum denken. Mit ihnen bestimmen wir, wie die Welt aussieht, in der wir alle leben.

Am heutigen Buss- und Bettag wollen wir dazu aufrufen, unsere Geschichte und Geschichten neu zu beleben, in die Debatten zu tragen und dort beherzt zu vertreten. Machen wir uns bewusst, dass die Welt, in der wir leben, vor unserer Haustüre beginnt, und nicht im Bildschirm unseres Smartphones.

Lassen Sie uns aufeinander zugehen und miteinander reden, so oft und so offen wie möglich. Das Gespräch und das Verständnis füreinander sind die Basis unserer demokratischen Gesellschaft.

Chur, im September 2024

Namens der Regierung
Der Präsident: Dr. Jon Domenic Parolini
Der Kanzleidirektor: Daniel Spadin

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